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Interview mit Professor Dietrich Grönemeyer

„Gesundheit und Eigenverantwortung müssen Schule machen“

Neubrandenburg / Lesedauer: 9 min

Mit „Der kleine Medicus“ schickt Professor Dietrich Grönemeyer (61) ein jugendliches Publikum auf Entdeckungsreise durch den menschlichen Körper. Wir sprachen mit Prof. Grönemeyer auch über die Ebola-Epidemie, Zynismus als Berufskrankheit, schwarze Schafe und das Verhältnis zum singenden Bruder Herbert.
Veröffentlicht:29.10.2014, 10:56

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Herr Professor Grönemeyer, warum ist es Ihnen so wichtig, dass sich Kinder mit ihrem Körper auseinandersetzen?

Leider steckt die Prävention bei Kindern zu oft noch in den Kinderschuhen. Nur wenn sie erkennen, wie wichtig gute Ernährung und Bewegung sind, können sie auch danach handeln. Schon Kinder leiden immer häufiger an vermeidbaren Zivilisationskrankheiten, unter anderem, weil sie die ungesunde Lebensweise ihrer Eltern übernehmen. Insgesamt sind 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17 Jahren übergewichtig, 6 Prozent aller Kinder sogar krankhaft. Mögliche Folgen sind Diabetes, Rücken- und Gelenkschmerzen, Herz-Kreislauf-Probleme. Krankheiten, die noch vor wenigen Jahren älteren Jahrgängen vorbehalten waren. Seit Jahren plädiere ich deshalb für Gesundheitsunterricht, verankert im Stundenplan, für eine Stunde Sport für jedes Kind an jedem Tag. Gesundheit und Eigenverantwortung müssen Schule machen.

Sind Fortschritte erkennbar?

Ja, doch es geht nur Zug um Zug. Am besten: mehrgleisig. Mit dem gesprochenen Wort, mit Büchern und mit Filmen. Der Film „Der kleine Medicus – Bodynauten auf geheimer Mission im Körper“ ist toll geworden. Er legt die Schwerpunkte ganz bewusst auf Abenteuer und Unterhaltung und möchte so Neugier für den Körper wecken, Denkanstöße geben, sich intensiver mit dem Wunder „Mensch“ zu beschäftigen. Bei der Vertiefung helfen dann die weiterführenden, neuen Bücher „Der kleine Medicus“, „Die neuen Abenteuer des kleinen Medicus“, „Das Körper-ABC des kleinen Medicus“. Sie wollen neue Lernwelten eröffnen.

Viele Science-Fiction-Storys wurden von der Realität eingeholt. Wie weit fortgeschritten sind (unbemannte) Reisen durch den Körper und Nanomedizin tatsächlich?

Ich habe versucht, ein neues Genre zu schaffen: mit der Vermischung von Fantasie und Wissenschaft. Zwischen Science Fiction und wissenschaftlichen Fakten sind die Übergänge ja fließend: Mikromedizin, mikroinvasive Behandlungsmöglichkeiten, bildgebende Verfahren und andere Einblicke in den Mikrokosmos Mensch. Magnetresonanztherapie, Computertomographie, minimale Eingriffe mit maximalem Effekt für die Patienten. Was vor 30, 40 Jahren noch undenkbar schien, ist heute gelebte Praxis. Die „Pille Gesundheit“ gibt es nicht. In meinen Büchern und im Film aber das phantastische, pillenkleine Raumschiff, mit dem Nano und Lilly sich auf die Reise durch den Körper machen.

Hier ist die Fantasie der Konstrukteur.

Ja. In der Medizintechnik gibt es aber längst Pillen, die man schlucken kann, und die aus dem Innern des Körpers wichtige Informationen und Bilder liefern. Als Mikrotherapeut habe ich früh erkannt, wie wichtig zum einen bildgebende Verfahren und zum anderen minimalinvasive Eingriffe sein können, wenn es darum geht, die Schmerzen von Patienten zu reduzieren oder ganz zu beenden. Deshalb habe ich die Mikrotherapie erfunden, eine Methode, bei der mit Instrumenten von 0,1 bis 2,5 Millimeter unter Schnittbildsicht der Tomographen behandelt werden kann. Das hat weltweit den Medizinalltag bei Operationen und in der Schmerztherapie revolutioniert. Mir geht es in meiner ärztlichen Praxis stets darum, von leicht nach schwer zu behandeln. Meine Devise: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Schonende Eingriffe funktionieren am besten, wenn man mit kleinen und kleinsten Instrumenten therapiert, die möglichst wenig Gewebe beschädigen und Schmerzen verursachen, wenn möglich ambulant durchführbar sind. Und ich bin sicher, dass in der Verkleinerung noch großes Potenzial steckt. Wir können zwar keine Menschen schrumpfen, aber Maschinen. Die Endoskopie-Pille ist da nur ein Beispiel von vielen.

Wie fühlt es sich an, wenn die Figuren, die man erdacht hat, plötzlich auf der Leinwand zum Leben erwachen? 

Unglaublich. Ein tolles Gefühl. Meine Figuren begleiten mich ja seit vielen Jahren in der unterschiedlichsten Weise. Am Anfang standen die Bücher. Ich freue mich über gut lesbare Texte, tolle Fotos und Zeichnungen. Es folgten das große Musical, die kleinere Version „Medi-Circus“, die meine Stiftung seit Jahren auf die Bühne bringt. Und nun der Film. Filme sind anders. Großartige Kommunikationsmittel, aber eben weniger handfest und greifbar. Der Film muss verkürzen und verdichten, er arbeitet stärker mit Unterhaltung, Bildern, Emotionen. „Geboren“ wurde der kleine Medicus ja schon 2004/2005. Doch er hat sich – bildlich gesprochen – mit den Jahren weiterentwickelt. Und, da bin ich mir sicher: Die Figuren werden noch viele, weitere Rollen spielen.

Viele Mediziner werden mit den Jahren zynisch. Wie ist es Ihnen gelungen, Ihr inneres Kind am Leben zu erhalten?

Zynismus ist eine „Berufskrankheit“, die ja auch Journalisten oder Lehrern nicht unbekannt ist. Wichtig ist für mich die Einstellung zum Leben und zum Beruf. Ich genieße die Gelassenheit und fühle mich trotz meiner bald 62 Jahre jung. Jugend ist eine Frage der Geisteshaltung. Manche Menschen sind Jäger, manche Sammler. Ich bin ein Entdecker. Immer auf Entdeckungsreise. Ich gucke ständig, wie funktioniert die Welt, wie geht es voran? Was mag der  Sinn des Lebens sein? Ich bin von Natur aus neugierig. Und Neugier ist mein Lebenselixier, sie hält mich jung. Immer neue Herausforderungen machen das Leben erst spannend.

Stimmt es, dass es auch Kontakte zum „großen“ Medicus gab?

Tatsächlich hielt ich lange Jahre die Rechte an Noah Gordons „Medicus“. Ich habe Noah Gordon in Amerika besucht und mit ihm gesprochen. Wir hatten etliche Treffen danach, auch mit seinem liebenswerten Freund und leider zu früh verstorbenen Verleger Karl Blessing und Dieter Kosslick, dem Chef der Berlinale. Wir waren uns einig, dass wir seine Buchvorlage für ein gemeinsames, zukunftsweisendes Filmprojekt aus Deutschland heraus nutzen wollten. Doch das Leben schreibt manchmal kuriose Geschichten. Ich habe Noah Gordon nacheinander drei Drehbücher angeboten und im Vertrauen auf unser gemeinsames Ziel viel Geld investiert. Wir wollten die Geschichte der Medizin ganz neu erzählen. Doch am Ende zog es Noah Gordons Familie vor, andere Wege zu gehen…

Können Sie an gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen, ohne dass Ihnen jemand von seinen Gebrechen erzählt und Rat sucht?

Ich bin zu allererst Arzt. Für mich gibt es nichts Spannenderes als Menschen. Mir ist die Gesundheit meiner Mitmenschen wichtig. Ich wünsche mir seit Jahren, dass jeder, ob Kind oder Erwachsener, mehr Verantwortung für seinen Körper und seinen Geist übernimmt. Jeder kennt sich selbst am besten – „Der Patient ist selbst der wahre Arzt – wir Ärzte sind nur seine Gehilfen“ – frei nach Paracelsus… Wir können alle selbst so viel tun, um gesund und fit zu bleiben. Wissen ist eine Basis dafür. Alle Menschen, egal ob jung oder alt, sollten über ihren Körper und ihre Gesundheit Bescheid wissen. Auch das ist für mich eine Herausforderung: Ich will begeistern für die Medizin und den Körper, den man so selbstverständlich nimmt, immer wieder ignoriert und verdrängt. Im und mit dem kleinen Medicus schlüpfen Kinder in die Rolle einer Figur, die offen für Neues ist – und ihnen hilft, sich selbst neu zu entdecken. Der kleine Medicus steht auch für den Arzt in dir selbst, für Hilfe zur Selbsthilfe. Ich muss mich lieben lernen und vom ich zum du zum wir kommen. Und wer sich dafür entscheidet, Arzt zu werden, der ist immer Arzt.

Betrachten Sie die grassierende Ebola-Epidemie mit Sorge?

Selbstverständlich. Die Nachrichten sind alarmierend. Wenn wir nicht gemeinschaftlich und schnell handeln, könnte Ebola sich im schlimmsten Fall zur Pest des 21. Jahrhunderts entwickeln.

Können Sie die Angst der Menschen in Europa verstehen, wenn Ebola-Patienten zur Behandlung hierher gebracht werden?

Scheinbar unkontrollierbare Krankheiten haben Menschen schon immer Angst gemacht. Das war im Mittelalter nicht viel anders als heute. Doch heute haben wir mit vielen wissenschaftlich-medizinischen Fortschritten bereits viele Krankheiten erfolgreich besiegt. Wir haben Möglichkeiten, von denen die Menschen vor 100 Jahren nur träumen konnten. Aber gerade die Möglichkeiten sind auch eine Verpflichtung. Die westliche Welt ist aufgerufen, mehrstellige Milliarden in Erste Hilfe und weitere Erforschung von Medikamenten und Impfstoffen zu investieren. Das könnte im Rahmen  nationaler und internationaler Notfallprogramme geschehen.

Welche Gedanken bewegen Sie, wenn ein paar schwarze Schafe, wie es sie natürlich in jeder Branche gibt, durch Abrechnungsbetrug, unkorrekte Organvergabe und Klüngel mit der Pharmaindustrie den Ruf Ihres Berufsstandes schädigen?

In jedem Berufsstand gibt es schwarze Schafe. Doch die allermeisten Ärzte haben nicht ohne Grund den Hypokratischen Eid abgelegt. So sehr das falsche Verhalten einiger durch dicke Schlagzeilen dem Bild des Mediziners schaden mag, so wichtig ist es, sich immer wieder bewusst zu machen, welch gute, aufopferungsvolle Arbeit die meisten Ärzte leisten. Besonders die hervorragende Leistung der Hausärzte, zumal unter schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen, zum Wohle der Gesellschaft kann man nicht oft genug loben.

Inwiefern nehmen die Brüder Grönemeyer Notiz von der Arbeit des Anderen?

Ich verfolge, was mein Bruder macht – und umgekehrt. Unser Verhältnis ist von gegenseitiger Wertschätzung für die Leistung des anderen geprägt. Und das, wenn man so will, seit unserer Kindheit. Da ich der Älteste bin, musste ich auf die beiden anderen zwar häufig aufpassen. Ich musste vernünftig sein, während die Kleinen mehr Unsinn machen durften. Klar, da gab es dann auch mal kleine Eifersüchteleien, wer beispielsweise beim Fußballspielen das schönere Tor geschossen hat.  Aber die Familie hält immer zusammen. Und seit dem Krebstod unseres Bruders sind Herbert und ich  noch viel enger zusammen gewachsen. Das war ein tragischer Moment für uns beide.

Geht die Reise des „Kleinen Medicus“ weiter?

Mit Sicherheit. Meine Devise ist seit langem: Der Weg ist das Ziel. Als ich 2004/2005 den kleinen Medicus schrieb, sah ich einen neugierigen Jungen vor mir, der die Welt erobern will. Ein Junge, mit dem sich Kinder leicht identifizieren können. Kein Supermann, nein, eher zu klein gewachsen, aber ein Bursche, der es faustdick hinter den Ohren hat und den Dingen auf den Grund geht. Dass die Figur später die Theater- und Filmbühnen erobern würde, wusste ich am Anfang ja noch gar nicht. Doch jedes Mal, wenn ich in den letzten Monaten den 3D-Film gesehen habe, musste ich staunen, was alles noch im kleinen Medicus steckt. Nein, ich glaube nicht, dass der Film und die neuen Bücher schon das Ende des Weges sind…