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Zeitzeuge erinnert sich in Gedenkstätte

Ein Mal Lachen in der Hölle von Auschwitz

Berlin /Grabow-Below / Lesedauer: 7 min

Er verabscheut gestreifte Kleidung. Er verlor seine Träume an die Hölle der Konzentrationslager. Doch Leon Schwarzbaum sagt, er müsse reden, so lange noch Zeit ist. Am Sonntag in Grabow-Below wird er reden. Vom Todesmarsch und der Sehnsucht nach der Wahrheit.
Veröffentlicht:25.02.2017, 10:00
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„132624“. Er kann diese Zahl im Schlaf nennen. Jene sechs Ziffern, die ihm damals mit 22 Jahren nur Minuten nach seiner Ankunft in Auschwitz in die Haut gestochen wurden. Gebrandmarkt wie ein Tier. „Ich sollte ein Niemand sein, eine Nummer und bald ausgelöscht. Ein Jude.“

Doch er ist am Leben. Leon Schwarzbaum ist vor wenigen Tagen 96 Jahre alt geworden. 132624 – steht da noch immer auf seinem linken Unterarm. Die Tätowierung löschen? „Niemals! Ich behalte sie. Bis zum Schluss.“ Seine Stimme wird kräftiger. Immer wieder ahmt seine rechte Faust das Stakkato des Stanzen in seine Haut nach. Registriert für die Hölle. Doch die Tätowierung störe ihn nicht. Im Gegenteil. 132624 – lässt sich nicht einfach ausradieren.

Selbstmord im Starkstrom

Ebenso wenig wie die Bilder, die Schreie, die schlaflosen Nächte, die Todesangst, die leeren Gedärme oder der qualvolle Durst in Auschwitz. „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“ Dantes Inferno sei es gewesen, was sich hinter dem elektrischen Stacheldraht abspielte. Leben könne er es nicht nennen. Wer es nicht aushielt, rannte in den Starkstrom. Er springt auf. Klebt sein Gesicht ans Fenster – gespreizte Arme und Beine an der Scheibe. „So, so haben sie dort im Zaun gehangen.“ Stille.

„Es war paradox. Denn hinter dem Stacheldraht hörte man die Vögel singen, es war lebendig und bunt. Und ich wünschte mir damals oft, ein Vogel zu sein.“ Seine Stimme bricht. Zwei Winter und zwei Sommer sollten es für Schwarzbaum in Auschwitz werden. Doch es ist eine andere Kraft als damals, die ihn seit vielen Jahren stark sein lässt, wenn er über die Zeit im Lager, die beiden Todesmärsche redet.

Junge Leute haben Fragen an den Alten

Reden muss er, wie er sagt. So lange es noch geht. Je länger es her ist, desto präsenter ist es in seinem Kopf. Lange Zeit konnte er es nicht. Die Jahre nach der Hölle schienen etwas zu verblassen, als er seine Frau Marie kennengelernt hatte. Ein Kunsthandel war der Grundstein der Existenz für das kinderlose Paar.

Ein Stück dieser Leidenschaft umgibt ihn noch heute in seiner Wohnung, in der er oft am Schreibtisch sitzt, Post von Menschen aus aller Welt beantwortet. Und er geht in Schulen, seit zehn Jahren. „Die jungen Leute sollen wissen, wie das wirklich war. Und die haben so viele Fragen, sind interessiert. Aber es macht mir große Sorge, wie wenig sie von ihrer jüngeren Geschichte wissen. AfD, Pegida, NPD. Das ist Nährboden für die.“

Stolz im Herzen und Käserinde im Magen

132624. Tage geprägt von Tod und der Ungewissheit, ob man ihn überleben werde. Gelacht? Ja, gelacht habe man in den Pferchen, die Betten sein sollten, 200 junge jüdische Männer in seinem Alter. Ein einziges Mal. Befreiend gelacht nach Todesangst.

„Es war nach dem Zapfenstreich. Da wurde die Tür aufgestoßen. Ein SS-Mann brüllte in die Dunkelheit: ‚Schweine! Schweine!‘ Und verschwand. Da ging plötzlich bei einem der Jungs ein Streichholz an. Kurz darauf eine Art Stichflamme direkt aus seiner Hose. Ich geniere mich, das zu erzählen. Aber es war seine Art des Stolzes und des Widerstandes. Das bisschen Würde, das wir uns doch alle bewahren wollten.“

So wie der Geschmack der Käserinde, die er im Dreck fand. Abfall für den in Uniform – ein Festschmaus für den Finder. Hartkäse – Leon Schwarzbaum mag ihn noch immer. Und er weiß, wie Brot schmeckt. Trockenes, altes oft auch schimmliges Brot. Ein Stück Brot als Abendessen. Er lernte, nur ein paar Bissen davon zu genießen und den Rest aufzubewahren. In der Hosentasche gab es so eine Notration für den Tag, wenn die Knie zu zittern begannen und die bewaffneten SS-Mannen allzu nah waren.

Ein Stück altes Brot bringt einen Freund fürs Leben

Einmal gab er einem Kameraden das Brot aus der Hosentasche als der schon beinahe nieder sank. Ein Freund fürs Leben, der heute in New York lebt. Ein willkommener Gast. Sein junges Leben hat Schwarzbaum durch eine „Funktion“ im Lager retten können. Als Laufbursche für die Obersten bekam er noch mehr zu sehen, erzählt vom Sterben, vom Mord, von gequälten Menschen, die nach Wasser schrien, bevor sie in die Gaskammer gedrängt wurden. Auch Jahrzehnte danach ist bei ihm alles lebendig. Wie die Pfütze im Gras, in der Schwarzbaum sein Gesicht spiegelte als der Kopf kahl rasiert und er ein Gefangener war, 132624.

Als Zeitzeuge kehrt er immer wieder an die Orte des Grauens zurück. Am Sonntag wird er nach Below reisen, um 14 Uhr seine Geschichte erzählen. In jenem Wald, der ihm und Tausenden einst Rast gewährte, Brennnessel und Baumrinde im Magen und im Herzen seinen Glauben.

Das, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt

Nein, Träume habe er keine mehr gehabt seitdem. Aber den einen Wunsch, dass der Film über sein Leben bald fertig wird. Dieses Jahr soll es soweit sein, nach drei Jahren Arbeit. Am 20. Februar 1921 in Hamburg geboren, ernährte der Altmetallhandel des Vaters die dreiköpfige Familie. Doch das Heimweh der Mutter führte den dreijährigen Leon ins oberschlesische Bedzin bei Kattowitz, ein Ort, geprägt vom jüdischen Leben. Es war das, was man eine unbeschwerte Kindheit nennt. „Ich spielte Basketball und Tennis, machte mit Freunden Musik. Wir mochten Swing und nannten uns die Jolly Boys.“

Arzt wollte er werden. Mit 19 dann das Abitur. Vier Wochen später brach das Unheil herein. Schritt für Schritt nahm die Entrechtung der Juden ihren Lauf, wurde aus Mord Massenmord. Wurde aus Leon Schwarzbaum 132624. Als er im August 1943 ins Konzentrationslager kam, waren seinen Eltern längst tot. Umgebracht in Auschwitz. „Schnell, schnell, immer musste alles schnell gehen. Ich sah sie nie wieder.“ So wie er niemanden seiner Großfamilie wieder sah. 35 geliebte Menschen ausgelöscht. 35 von sechs Millionen Juden – vergast, gefoltert, verbrannt, erniedrigt.

Ein Überlebender im Prozess gegen Reinhold Hanning

Einem, der im Lager über Leben und Tod entscheiden durfte, dem musste und wollte Leon Schwarzbaum gegenüberstehen. Er war im vergangenen Jahr zum Prozess gegen Reinhold Hanning nach Detmold gereist. Zwei gleichaltrige Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Ihre Wege kreuzten sich einst in Auschwitz. Der eine Wachmann, der andere Häftling.

Hanning hatte geschwiegen, wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Schwarzbaum gab ihm einen langen Brief, der da endet: „Es lag an Ihnen, die historische Wahrheit zu sagen, so wie wir Auschwitz-Überlebende es hier in Detmold getan haben. So wie wir als Überlebende bis zum Tod mit den furchtbaren Erinnerungen leben müssen, werden auch Sie bis zum Tod mit sich alleine sein.“

Allein fühle er sich nicht. Aufrechten Ganges, ein Gentleman, führt der 96-Jährige in seiner Wohnung in Berlin Grunewald zu den Fotos, die Lebenspersonen für ihn sind. Das schwarz-weiß-Foto mit Eltern und Onkel ist alles, was Leon Schwarzbaum von ihnen geblieben ist. Und das Bild von Marie. Daneben ein Foto von ihm, als Vierjähriger, das Spielzeug im Arm. Braune Augen. Dunkles Haar. Ein Kind, dass nicht ahnen konnte, was das Leben mit ihm vorhat, die Nationalsozialisten mit ihm vorhatten. „Sie haben mein Leben zerstört.“ Doch es ist nicht Hass aus dem Mund des alten Mannes. Es ist die verzweifelte Suche nach Antworten auf die Fragen. Warum? Warum haben Menschen das Menschen angetan? „Ich weiß es nicht. Ich habe nie aufgehört, mich das zu fragen.“