StartseiteRegionalNeubrandenburgSie sah, wie die Bomben auf Anklam fielen

Erinnerungen an das Kriegsende

Sie sah, wie die Bomben auf Anklam fielen

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Heute jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70 Mal. Viele ältere Menschen erinnern sich noch gut daran, wie sie diese einschneidende Zeit erlebt haben. Auch Ursula Fels, heute 91, denkt zurück.
Veröffentlicht:08.05.2015, 09:32

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Es ist Ende Oktober 1944. Ursula Fels, damals 20 Jahre alt, hat es sich auf dem Dach einer Gartenlaube gemütlich gemacht. Die junge Frau liegt entspannt und schaut in den unbewölkten Nachmittagshimmel. Sie genießt die letzten warmen Spätsommerstunden. Doch die Flugzeuge kommen von der anderen Seite. Plötzlich kracht es ohrenbetäubend laut.

„Komm da runter! Komm runter“, ruft Ursula Fels‘ Mutter panisch. Die Gartenlaube steht nur 150 Meter entfernt von der Anklamer Zuckerfabrik, auf die amerikanische Flieger Bomben prasseln lassen. Ursula Fels springt vom Dach und läuft ins Haus. Sie überlebt den Angriff unverletzt. Aber an die schwere Kriegszeit und das Ende der Kämpfe erinnert sie sich ihr Leben lang.

Die Detonation der Fliegerbomben bringt viele Fensterscheiben auf der Hauptstraße zum Bersten. „In den nächsten Tagen haben wir das Glas aus den Scheiben gekratzt“, erzählt Ursula Fels. Heute ist sie 91 Jahre alt und lebt in Neubrandenburg. Eine ruhige alte Dame, die detailliert von ihrer bewegten Vergangenheit spricht. Immer wieder nimmt sie ihr schwarzes, über siebzig Jahre altes und reichlich vergilbtes Tagebüchlein mit dem rot verzierten Kopfschnitt und blättert darin. Sie träumt sich zurück.

Heimlich versorgt sie Kriegsgefangene

Damals ist Ursula Fels in den Arado-Flugzeugwerken in Anklam beschäftigt. Nach dem Reichsarbeitsdienst, den sie sieben Monate lang fast ohne Bezahlung bei einem Bauern in Ostpreußen leistete, wird sie in Königsberg zur Schaffnerin ausgebildet. Doch sie soll zurück in ihre Heimatstadt Anklam. Immer wieder stürzen Flugzeuge ab, die in den Arado-Flugzeugwerken gebaut wurden.

Die Hersteller fürchten Sabotagen: Denn in den Werken müssen viele Kriegsgefangene zwangsweise arbeiten. Ursula Fels bekommt eine Stelle als Kontrolleurin. Sie überprüft die Schweißnähte an den Ladeklappen der Flieger. „Ich musste ausmessen, ob alles die richtige Länge hat und die Teile dem Druck standhalten können“, erzählt sie. Häufig waren SS-Leute in der Fabrik, die die Gefangenen überwachten. „Beim kleinsten Sabotage-Verdacht führten sie die ab und erschossen sie“, erinnert sich Ursula Fels. Die damals junge Frau kann die Grausamkeit nur schwer ertragen. „Die Gefangenen bekamen sehr, sehr wenig zu essen“, sagt sie. Sie hat Mitleid mit einer jungen Russin, Sonja. Am Morgen bittet sie ihre Mutter, eine zusätzliche Stulle zu schmieren. Warum, sagt sie lieber nicht. Heimlich steckt sie der Russin das Brot zu. Die verzieht sich auf die Toilette, um es ungesehen zu essen. Hätten die Aufseher das mitbekommen, hätte es großen Ärger für Ursula Fels gegeben.

Eine schwere Zeit für die Frau

Es wird immer klarer, dass das Terrorregime der Nazis am Ende ist. Die Alliierten rücken weiter und weiter vor und beenden die Macht der Faschisten. Am 24. April 1945 stellen die Arado-Werke die Arbeit ein. „Der Russe hat die Oder überschritten“, liest Ursula Fels aus ihrem Tagebuch vor. „Die Flüchtlingswagen stauen sich in den Straßen unserer Stadt. In den letzten Wochen ist der Schlaf nur leicht.“

Für die junge Frau beginnt eine schwere Zeit, geprägt von Unsicherheit und Angst. Sie weiß nicht, ob die Stadt verteidigt wird. Sie und ihre Familie warten auf weiße Fahnen am Kirchturm, die das Ende des Krieges symbolisieren. Die Angst ist groß. Untaten werden von den nach Westen ziehenden Soldatentrupps berichtet.

Zum Schutz täuschte sie Krankheiten vor

„Wir packten unsere Koffer, warfen Speck und Brot in einen Handwagen. Die Gardinen zogen wir von den Fenstern. Mein Fahrrad musste ich einbüßen“, erzählt Ursula Fels. Ein russischer Soldat sieht das junge Mädchen im Garten ihres Hauses, will es mitziehen. Aber sie schreit immer wieder „Syphilis, Syhpilis!“ Mit der vorgetäuschten Geschlechtskrankheit will sie sich vor der Vergewaltigung schützen. Der Soldat begnügt sich nicht. Er sagt, er müsse einen Offizier holen. Inzwischen kann Ursula Fels‘ Familie mit dem Handwagen entkommen. Ihr Vater buddelt ein Loch in den Wallgraben der Stadt. Unten an der Peene verstecken sie sich in diesem Unterbau.

Später vertraut sich die Frau ihrem Tagebuch an: „Gott, ich danke dir für die Kraft und den Mut, meinen Körper vor den Übergriffen zu schützen.“ Manchmal täuscht sie auch eine Schwangerschaft vor, stopft sich Kissen unters Hemd, um die Soldaten fernzuhalten.

Nach der Befreiung sieht Ursula Fels die junge Russin Sonja wieder. „Sie sprang von einem Treck, auf dem russische Soldaten die befreiten Landsleute sammelten. Sie umarmte mich und dankte mir.“ Die ehemalige Kriegsgefangene war noch eine Weile in einer Möbelfabrik untergebracht. Dann konnte sie in ihre Heimat zurückkehren.

Ursula Fels schlägt eine neue Seite in ihrem Tagebuch auf. „Die furchtbaren Stunden kamen erst noch. Manch eine Mutter wird vergebens auf ihren Sohn warten“, liest sie mit nachdenklicher Stimme. Auch die damals 20-jährige Frau sah gefallene Soldaten und wird ihren Bruder Günther niemals wieder in die Arme schließen.

Das Schicksal von Günther Fels

Er wurde noch 1945, als der Krieg bereits in die endgültige Niederlage mündete, eingezogen. Drei Jahre später schreibt Ursula Fels ihrem Tagebuch einen bewegenden Brief an den verschollenen Bruder: „26 Jahre alt wärst du jetzt. Ich weiß nicht, ob dich dieser Brief erreichen wird oder ob du ewig jung bleiben wirst. Das wäre der Fall, wenn dich der Tod geholt hätte. Wir haben immer an dich gedacht.“

60 Jahre vergehen, ehe sie etwas von ihrem Bruder erfährt. Günther Fels, der im Dritten Reich Pommernmeister im Boxen war, ist bei Schneidemühl (heute Pila), einer Stadt in Großpolen, gefallen und wurde dort beerdigt. Nach dem Krieg zieht Ursula Fels nach Neubrandenburg. Sie übernimmt das Blumenhaus am Marktplatz, bildet Lehrlinge aus, die als die besten in der Stadt gelten.

Als Stadtverordnete nimmt sie sich „die Leute vor, die bösartig gegenüber anderen sind.“ Sie führt unter anderem einen Ruheraum für Schwangere ein. Nie wieder wolle sie solche Grausamkeiten mit ansehen müssen, wie sie von den SS-Männern im Arado-Werk verübt wurden.