Einige Meter lang reiht sich an einer Wand im Festsaal des GBW-Pflegeheims in der Anklamer Lindenstraße ein Foto an das andere. Die Bilder zeigen Ruth Wiehr unter anderem als Mädchen mit blonden Zöpfen, als junge Frau in der Ausbildung, als Braut, als Mutter und Großmutter – und als leidenschaftliche Gärtnerin.
Unterbrochen wird die Reihe nur von einem Blatt auf dem in roter Schrift die Jahreszahl 1945 geschrieben steht und „Flucht aus Hinterpommern”. Es sind die Stationen eine langen, erfüllten Lebens. Ruth Wiehr ist dieser Tage 90 Jahre alt geworden.
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Flucht beendet unbeschwerte Kindheit
Geboren wurde sie als Tochter des Gutsinspektors Krause 1932 in Kürtow, im damaligen Kreis Arnswalde in der Neumark. Der Ort befindet sich etwa 80 Kilometer südöstlich von Szczecin (Stettin) und heißt heute Korytowo. Edda Beckmann, die Tochter von Ruth Wiehr, erzählt beim Empfang zu Ehren der Jubilarin von einer eher unbeschwerten Kindheit ihre Mutter, die im Frühjahr 1945 abrupt endet.
Die Front rückt näher, die Familie muss flüchten und landet im Sommer des Jahres in Anklam. Untergebracht wird sie zunächst in Pelsin und Gellendin. Ruth Wieht beginnt eine Ausbildung und arbeitet als Fachschullehrerin.
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1000 Quadratmeter und kein Unkraut
Später hilft sie ihrem Bruder, der in Butzow einen Bauernhof übernommen hat. Nachdem der Betrieb der Zwangskollektivierung zum Opfer gefallen ist, arbeitet Ruth Wiehr bis zur Rente im Labor der Zuckerfabrik.
1962 heiratet sie und zieht mit ihrem Mann in den Ahornweg. Sie kümmert sich liebevoll um ihre Familie, berichtet Tochter Edda, und findet auch noch Zeit für den großen Garten. „Tausend Quadratmeter und kein Unkraut” wird anerkennend über die grüne Domäne der Frau gesagt, deren Mutter Herta Krause im Frühjahr 1995 selbst stolze 95 Jahre alt geworden ist. Auch darüber hatte der Nordkurier schon berichtet.
Busfahrten in die alte Heimat organisiert
Die alte Heimat in der Neumark allerdings bleibt unvergessen. Nach der Wende organisiert Ruth Wiehr Busfahrten nach Kürtow und Treffen der ehemaligen Bewohner des Ortes. Diese gehen später in die Arnswalder Heimattreffen und Pommerntreffen des Vertriebenenverbandes über, wie Friedhelm Schülke vom Verband berichtet. Er weiß auch, dass viele Vertriebene aus dem Kreis Arnswalde zunächst in Anklam gelandet sind.
Ruth Wiehr gehört zu jenen, die dort auch geblieben sind. Schon anlässlich des Geburtstages ihrer Mutter vor 27 Jahren wird sie in der Zeitung mit den Worten zitiert: „Wir haben alles überstanden, leben jetzt hier. Und wenn wir gesund sind, sollten wir zufrieden sein.” Daran dürfte sich nicht viel geändert haben.