Die erste Reise in die alte Heimat nach Ostpreußen drohte gleich zum Anfang zu scheitern. Als Manfred Schukat und Friedhelm Schülke aus Anklam am 23. Mai 1991 in ihrem Wartburg Kombi am polnisch-russischen Grenzübergang Braunsberg (Braniewo)–Heiligenbeil (Mamonowo) standen, wurde ihnen die Einreise verwehrt. Kopfschütteln und Diskussion mit den gestrengen Grenzern.
Schließlich, so argumentierten Schukat und Schülke, wollten sie mit einer Truppe aus Bielefeld doch nur Gutes tun, Spenden übergeben an die Menschen in Gumbinnen (heute die russische Stadt Gussew). Doch es gab kein Erbarmen: Die Reisenden in den Westautos durften durch, weil in deren Visa „Humanitäre Hilfe“ als Reisegrund vermerkt war.
Mehr lesen: Flucht aus der DDR - Was Dresden mit Demmin zu tun hat
„In unseren Pässen stand ,privat‘“, erinnert sich Schülke, dem vorher nicht bewusst war, dass der angepeilte Grenzübergang keine Privat-Reisenden durchlasse. So blieb nur der 125 Kilometer lange Weg zum sowjetischen Konsulat nach Danzig (Gdansk), wo die Visa den geforderten Stempel bekamen.
Eine Reise in die Vergangenheit der Familie
Letztlich klappte dann aber alles Weitere auf dieser Tour, die für Schukat eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie war. Seit 1730 sind die Schukats in Seekampen, gelegen am Ostrand des russischen Oblasts Kaliningrad, nachweisbar. Im Oktober 1944 floh die Familie angesichts der näher rückenden Front. Bis zur Wende gab es keine Chance für die Eltern Schukats, die alte Heimat wiederzusehen. Ausländern war die Einreise nach Kaliningrad generell untersagt.
Erst 1991 wurde das Verbot von der sowjetischen Regierung gekippt. Als Manfred Schukat im Mai 1991 das Gehöft der Eltern sucht, erlebt er eine Enttäuschung. „Als letztes Gebäude eines schönen Bauerndorfes wurde es vor sieben Jahren abgerissen. Nach unserer Schätzung sind nur noch zehn, höchstens 20 Prozent der alten Dörfer vorhanden. Für perspektivlos erklärt, wurde in mehreren Wellen beseitigt, was der Krieg übriggelassen hatte“, schrieben Schukat und Schülke in ihrem im Nordkurier abgedruckten Reisebericht „Von einer Reise in die Kindheit – oder: Wo liegt Gumbinnen?“.
Mehr lesen: Einweihung der Gedenktafel am Anklamer Theater sorgt für Kritik
Viel Kummer über Niedergang und Verfall
In dem Text schwingt viel Kummer mit über den Niedergang des geliebten Ostpreußens, ein Verfall, der sich nicht nur auf den Dörfern, sondern auch in Königsberg zeigte. Die tiefen Wunden, die die Bombardements der Briten 1944 gerissen hatten, waren immer noch im Stadtbild zu sehen. Der Dom eine Ruine. Die Börse war eines der wenigen erhaltenen alten Gebäude. Lieblose Plattenbauten dominieren das Stadtbild bis heute.
„Es wird nicht wieder so werden, wie es war – aber es kann auch nicht so bleiben, wie es ist“, so das Resümee der Anklamer nach 14 Tagen und 3060 Kilometern. „Ob wir wiederkommen wollen? Aber natürlich!“
Großes Interesse beim ersten Dia-Vortrag 1991
Und wie Schukat und Schülke, befreundet seit 44 Jahren, wiederkamen. Der nächste Hilfstransport ging schon 1992 auf die Reise. Bis heute haben sich die beiden Anklamer in jedem Jahr auf den Weg gemacht, um die Menschen im ehemaligen Ostpreußen, vorzugsweise im heutigen Litauen, mit Lebensmitteln, Medikamenten oder Bekleidung zu unterstützen.
Mehr lesen: Manfred Schukat erhält das Bundesverdienstkreuz
Als sie im Herbst 1991 in Anklam die Dias ihrer ersten Ostpreußen-Reise zeigten, kamen viele Besucher, die in Königsberg, Gumbinnen, Stallupönen, Insterburg und anderen einst deutschen Städten und Dörfern ihre Wurzeln haben. „Da wollen wir auch hin!“, hieß es. „Also organisierten wir 1993 eine Busreise“, erinnert sich Schülke.
Risikokapital aus Vorpommern für Hotelier in Kaliningrad
Die erste Unterkunft in Gumbinnen war doch sehr gewöhnungsbedürftig, die Reisegruppe kam im Internat der Berufsschule für Landwirtschaft unter. Seit 1994 nutzen die Anklamer das Hotel „Baltika“, ein „Kasten aus den 80er Jahren“, der nach und nach auf Vordermann gebracht wurde. Auch dank des „Risikokapitals“ aus Anklam.
Als Schukat und Schülke in den 90er Jahren Zimmer für eine Reise buchen wollten, räumte der Hotelchef ein, dass Modernisierungsarbeiten erforderlich wären, für die das Geld fehle. Also streckte Schukat dem russischen Hotelier 20.000 D-Mark vor, die Bauarbeiter rückten an und die Heimat-Reisenden konnten wenige Wochen später ein wieder etwas moderneres Hotel genießen.
„Durch unsere Hände gingen 15.000 Menschen“
Mittlerweile hat das „Reiseunternehmen Schukat & Schülke“ etwa 60 Busreisen mit rund 6000 Teilnehmern organisiert. Darunter auch der eine oder andere SED- und Stasi-Funktionär, der seine Heimatvertriebenen-Biografie vor der Wende verschwiegen und verdrängt hatte. Zusammen mit den Ostpreußen-Treffen, die die beiden regelmäßig organisieren, sind „15 000 Menschen durch unsere Hände gegangen“, schätzt Schukat.
Seit einigen Jahren fahren auch die Kinder der aus Ostpreußen Geflohenen und Vertriebenen mit. Der 100-jährige Berliner Hubert Brosda hat sich beispielsweise für die nächste Fahrt im Herbst in die Masuren mit seiner Tochter (62) angemeldet, sagt Schülke.
Wie die Russen an das deutsche Erbe erinnern
Reisen bildet, das ist klar, erst recht, wenn es in das mit Kultur und Historie aufgeladene ehemalige Ostpreußen geht. Aber reisen kann auch für eine differenzierte Sicht auf die Dinge sorgen. Allzu oft beschreiben auch wir Journalisten Russland im Allgemeinen und Kaliningrad im Besonderen mit Klischees. Schon bei ihrer ersten Reise waren Schukat und Schülke überrascht, dass auch nach mehr als 40-jähriger Sowjetherrschaft an das deutsche Erbe erinnert wird.
Beispielsweise an den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). So gibt es in Gumbinnen seit mehr als 40 Jahren einen Kammerchor, der den Namen Kants trägt. Das ehemalige Pfarrhaus im Dorf Wesselowka – früher Judtschen, ab 1938 Kanthausen – wurde aufwendig saniert. Hier lebte und arbeitete Kant von 1747 bis 1750 als Hauslehrer. 2015 wurde das Pfarrhaus als „Kant-Haus“ in die Liste der Kulturerbe-stätten der Völker der Russischen Föderation als Objekt von regionaler Bedeutung aufgenommen.
Auch Präsident Putin hilft finanziell
Dass in die Sanierung nicht nur Mittel aus dem Staatshaushalt, sondern auch private Gelder von Präsident Wladimir Putin geflossen sind, ist auf der Internetseite nicht zu lesen. Das kann aber Schülke erzählen. Putins privates Engagement sei auch der Biografie seiner ersten Frau, der Deutschlehrerin Ljudmila Putina, zu verdanken, die in Kaliningrad aufwuchs.
Nach der Corona-Zwangspause im vergangenen Jahr wollen Schukat und Schülke in diesem Jahr wieder loslegen. Die ersten Reisen sind schon wieder geplant. Und im späten Herbst soll es auch wieder eine Tour mit dem Transporter und zahlreichen Päckchen als Weihnachtsüberraschung für Menschen in Litauen geben.