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Vorverurteilung von Apotheker

Schuldig! Wenn die Medien Richter spielen

Neubrandenburg / Lesedauer: 7 min

Zwischen 2012 und 2016 soll ein Apotheker fast 62 000 Mal Krebsmedikamente unterdosiert haben. Der Prozess gegen ihn geht nun in die Verlängerung. Ein Urteil wird im Juni erwartet. Doch in der Öffentlichkeit scheint seine Schuld längst besiegelt. Das geht nicht, schreibt Gastautor und Strafrechtsprofessor Holm Putzke.
Veröffentlicht:19.03.2018, 16:23

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Ein spektakuläres Strafverfahren, das am Landgericht Essen gegen einen Bottroper Apotheker geführt wird, liefert aktuell ein trauriges Lehrbeispiel dafür, wie manche Medien an ihrem Auftrag scheitern. Journalisten führen sich da als Scharfrichter auf, sie fällen ein Urteil, noch bevor das Gericht Gelegenheit hatte, sich intensiv mit der Sache zu befassen. Statt „differenziert, intelligent und angemessen“, wie es kürzlich gewohnt pointiert der frühere Bundesrichter Thomas Fischer für die Ausübung der vierten Gewalt forderte, wird hier Journalismus mit der Brechstange gemacht.

Wie im Mittelalter wird ein Mann da an den öffentlichen Pranger gestellt, freigegeben für Beschimpfungen und Verwünschungen aller Art, ohne dass man der Unschuldsvermutung ihren gebührenden Raum gibt. Man meint, diese Medien hätten aus dem Fall Kachelmann nichts gelernt.

Als „Todesapotheker” bezeichnet

In dem Verfahren in Essen geht es konkret um einen Apotheker, der Krebsmedikamente systematisch unterdosiert haben soll, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft. Lesen kann man indes schon vor dem Urteil von „einem der größten Medizinskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte“, als „Todesapotheker“ wird er auf den entsprechenden Titelseiten schon zum Abschuss freigegeben und seine Familie gleich mit.

Und weil das noch nicht reicht, werden Teile der Gerichtsakte in rechtswidriger und vielleicht strafbarer Weise verwertet und ins Internet gestellt. Das alles geschieht in einem Erregungszustand, der seinesgleichen sucht: Teile der Medien beteiligen sich im Dienste einer Stimmungsmache an einer beispiellosen Schmutzkampagne, empörte Bürger prangern auf bloßen Verdacht hin an, und dürfen – unterstützt von Öl ins Feuer gießenden Journalisten – diese Missachtung von Grundregeln unseres Zusammenlebens auch noch für eine gute Sache halten. Mob und Medien – das ist meist eine unheilvolle Allianz

Existenz und Leumund sind zerstört

Für all das gibt es einen Namen: Vorverurteilung. Diese ist schon jetzt, im Gegensatz zur Schuld des Angeklagten, gewiss und massiv. Existenz und Leumund des Angeklagten sind zerstört – wie einst bei Kachelmann, der trotz erwiesener Unschuld bis heute darunter leidet, was ihm öffentlich angetan wurde. Wie wollen solche Medien denn Regierung und Rechtsprechung kritisch begleiten, was sie ja auch sollen, wenn sie selbst keine Distanz walten lassen und ungeprüft massive Vorverurteilungen
vornehmen?

Wie es anders, und zwar besser geht, das zeigen in dem Verfahren zum Glück wenigstens manche Nebenklägerinnen. Obwohl sie selber vom Verfahren unmittelbar betroffen und belastet sind, achten sie die Unschuldsvermutung. Auch betonen sie, dass es ihnen in erster Linie um Aufklärung und Transparenz geht. Dadurch unterscheiden sie sich erkennbar und wohltuend von Teilen der Presse.

Deren Entgleisungen bleiben nicht folgenlos, nicht nur für den Angeklagten, sondern für uns alle. Denn sie tragen zu einem gesellschaftlichen Klima bei, in dem die Rechte eines Tatverdächtigen, zu dem jeder schneller als gedacht und ohne eigenes Zutun werden kann, nicht mehr viel zählen.

Gericht läuft Gefahr, an Medien-Pranger zu kommen

Vorverurteilungen behindern so eine sachliche und unbefangene Wahrheitssuche. Wer die Wahrheit erfahren möchte, darf nicht Druck mit dem aufbauen, was er für wahr hält und in die Welt als Gewissheit hinausposaunt. Nur in der Distanz zu Vorverurteilungen wird eine Wahrheitssuche gelingen. Deshalb stellt sich schon jetzt die Frage, ob am Landgericht Essen überhaupt noch ein faires Verfahren möglich ist und wozu ein Gericht überhaupt noch zusammensitzen soll, wenn die „Wahrheit“ doch in der Zeitung schon zu lesen war.

In einer solchen Situation ist ein Gericht in besonderer Weise gefordert, die Gebote der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, insbesondere das Gebot, fair zu prozessieren. Doch ist selbst bei einer unabhängigen Justiz die Gefahr der Einschüchterung durch öffentlichen Druck nicht von der Hand zu weisen, denn auch Richter laufen Gefahr, persönlich von Medien „belangt“ und an den Pranger gestellt zu werden. Dann ist schnell statt vom „Todesapotheker“ die Rede von einem „Witzurteil“ oder von „Deutschlands laschesten Richtern“. Wer möchte sich solchen Attacken ausgesetzt sehen?

Lässt sich die Justiz beeindrucken?

Lässt das Gericht sich hingegen, bewusst oder unbewusst, anstecken von der öffentlichen Hetze und der Befürchtung, selbst ins Visier der Hexenjäger zu geraten, hat der Angeklagte einen schweren Stand. Insbesondere komplexen Fragen weicht die Justiz dann womöglich unbewusst aus und begnügt sich mit vorschnellen Antworten, weil die „Wahrheit“ sowieso schon jeder kennt. Die Gefahr, dass ein Gericht unter solchem Druck tatsächlich den einfachsten Weg einschlägt, scheint in Essen real zu werden.

So hat der renommierte Nürnberger Dopingexperte Fritz Sörgel schon vor Monaten darauf hingewiesen, dass eine Wirkstoffbestimmung in Arzneimittelzubereitungen aus einer niedergelassenen Apotheke nicht ohne weiteres möglich ist. Auch die für die Bottroper Apotheke zuständige Amtsapothekerin hat in der Hauptverhandlung dem Gericht gesagt, dass zuverlässige Untersuchungen zur Kontrolle nicht zur Verfügung standen. Bisher hatte man solche Wirkstoffbestimmungen auch gar nicht für erforderlich gehalten. Zwei ausgewiesene Experten also, deren Aussagen zumindest in die Richtung weisen, dass keineswegs Habgier, sondern womöglich einfach nur Unzulänglichkeiten bei Technik und Verfahren zur Herstellung der Krebsmedikamente Ursache für die festgestellten Unterdosierungen waren.

Lautstarke Rufe nach Abstrafung übertönen alles

Dennoch weigerte sich das Gericht zunächst, die von Gutachtern im laufenden Verfahren getroffenen Feststellungen auf den Prüfstand zu stellen und alle ihnen zugrunde liegenden Tatsachen erläutern zu lassen, obwohl ein Gericht von Amts wegen die Verpflichtung hat, die Arbeit eines Sachverständigen zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle ist aber nur möglich, wenn man die konkrete Arbeitsweise des Sachverständigen nachvollziehen kann.

Die Essener Richter begnügten sich ursprünglich mit der Beteuerung der Gutachter, dass sie die hochkomplexen Methoden schon richtig erfunden, dass sie ihre Labormitarbeiter richtig ausgewählt und angewiesen haben und alle auch wirklich alles richtig gemacht haben. Der Kontrolleur, hier das Gericht, fragt also den Kontrollierten, hier die Gutachter, ob er sorgfältig gearbeitet habe. Soll das die Maxime sein, nach der gravierende Tatvorwürfe untersucht werden? Das ist so, als würde ein Journalist seine Quelle überprüfen, indem er sie fragt, ob die Sache denn auch stimme.

Laute Rufe nach Abstrafung

Vielleicht wurden vom Angeklagten schlicht Fehler gemacht, vielleicht ist die Bereitstellung von Arzneimittelzubereitung durch niedergelassene Apotheken grundsätzlich ein so komplexer und störanfälliger Prozess, dass Fehler erwartbar sind, vielleicht sind niedergelassene Apotheken mit der Zubereitung von Arzneimitteln auch grundsätzlich überfordert – was ja im Moment in der Wissenschaft und bis in höchste Politikebenen lebhaft diskutiert wird. Es ist bemerkenswert, dass das Gericht von sich aus an der Klärung solcher für die Schuld- und Straffrage wichtigen Aspekte nicht von Anfang an Interesse zeigte.

Im Moment übertönen die lautstarken Rufe nach einer Abstrafung des Angeklagten und die Stimmungsmache alles und jeden, auch jene, die nach Missständen im System fragen. Man scheint sich damit begnügen zu wollen, sämtliche Probleme auf die Person des Angeklagten zu projizieren – vielleicht auch, um nicht das Bild eines scheinbar gut funktionierenden Apothekenwesens aufgeben zu müssen.

Dabei drängt es sich nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen auf, nicht nur nach einer Individualschuld, sondern auch nach einem Kollektivversagen, nach Missständen in einem ganzen Marktsegment des Gesundheitswesens und nach dem Zustand einer Branche zu fragen.