StartseitePanoramaSchweiz erinnert an Sonnentempler-Drama

Der apokalyptische Wahn

Schweiz erinnert an Sonnentempler-Drama

Panorama / Lesedauer: 4 min

In einer Nacht starben vor 20 Jahren 48 Sekten-Mitglieder. Viele töteten sich selbst, bei anderen wurde nachgeholfen. Sie würden ihre Mission auf einem anderen Planeten fortsetzen, hatte ihr Guru versprochen.
Veröffentlicht:03.10.2014, 14:34
Artikel teilen:

In der Nacht zum 5. Oktober 1994 brennt im Dorf Cheiry im Kanton Freiburg ein abgelegener Hof. Die Feuerwehrleute machen eine schreckliche Entdeckung: Hinter einer Geheimtür finden sie 23 Leichen in Kultgewändern. Gleichzeitig brennen im etwa 150 Kilometer entfernten Salvan im Wallis weitere Häuser. Dort findet die Polizei 25 Leichen. Einige waren erschossen worden, die meisten hatten jedoch Selbstmord begangen. Alle Opfer gehörten zur Sekte der Sonnentempler.

Der Fall ist „der wohl bislang größte Massenmord und -suizid der Schweiz“, wie der Schweizer Journalist und Sektenexperte Hugo Stamm konstatiert. Intensiv hat er sich mit den Sonnentemplern befasst und in einem Beitrag für den Züricher „Tages-Anzeiger“ (Mittwoch) die Ereignisse zum 20. Jahrestag der Tragödie nochmals aufbereitet.

Einflussreiche Politiker in der Sekte

Im Mittelpunkt der Tragödie damals stand Sektenführer Joseph „Jo“ Di Mambro, ein Uhrmacher und Goldschmied aus Pont-Saint-Esprit in Südfrankreich. Ab Anfang der 70er Jahre hatte er Menschen um sich geschart und den Ordre du Temple Solaire – den Orden der Sonnentempler – aufgebaut, eine Sekte, die sich in der Tradition der Geheimbünde der Rosenkreuzer verstand.

Die Organisation wirkte im Verborgenen, stand nur Eingeweihten offen. Die Zahl der Mitglieder zum Zeitpunkt der Tragödie wird auf mehrere Hundert geschätzt, vor allem in der Westschweiz und in Frankreich, aber auch in den USA und Kanada, darunter mehrere einflussreiche Politiker und andere Persönlichkeiten. Eine davon war der Schweizer Michel Tabachnik, heute 71 Jahre alt und Chefdirigent der Brüsseler Philharmoniker. Tabachniks Ehefrau kam in Salvan um.

Weiterleben auf dem Sirius als Sonnenwesen

Vieles deutet darauf hin, dass Di Mambro das Massensterben vorbereitet hatte. Die Evangelische Informationsstelle „Kirchen, Sekten, Religionen“ veröffentlichte vier Jahre danach ein Dossier, wonach die Führung der Sonnentempler 1993 mit der Planung begonnen hatte. Zum Zeitpunkt der Taten kamen die jedoch für Ermittler, Medien und Öffentlichkeit aus heiterem Himmel.

Laut Sektenexperte Hugo Stamm war in der Zeit vor der Tragödie die Expansion der Sekte ins Stocken geraten. Zudem gab es Geldprobleme. „Ein herber Rückschlag für Di Mambro, der zunehmend paranoide Züge entwickelte – zumal er sogar als Sektenführer vereinzelt infrage gestellt wurde“, schreibt Stamm.

Kurz vor den Tragödien in der Schweiz gab es übereinstimmenden Berichten zufolge bereits eine andere Bluttat in Kanada. Ein Ehepaar, das dort die Häuser des Gurus betreute, hatte seinen Sohn Emmanuel getauft – derselbe Name, den in weiblicher Form Di Mambros Tochter trug, die als „kosmisches Kind“ verehrt wurde. Das soll den Sektenchef so erzürnt haben, dass er Gefolgsleute nach Kanada schickte, die das Ehepaar und deren drei Monate alten Sohn am 30. September töteten.

Massenexit als Höhepunkt des Experiments

Seinen Jüngern erzählte Di Mambro, sie seien wiedergeborene Tempelritter. Durch apokalyptische Feuer gereinigt würden sie auf dem Planeten Sirius als christusähnliche Sonnenwesen weiterleben. So starben am 4. Oktober zunächst 23 Anhänger in Cheiry und später 25 Menschen in Salvan – darunter Di Mambro und seine Tochter.

Sektenexperte Stamm verweist auf schriftliche Zeugnisse, wonach sich Di Mambro auch aus einer narzisstischen Kränkung heraus ein Denkmal setzen wollte: „Er nutzte den Tod seiner Anhänger als theatralische Inszenierung, die ihm einen Platz in der Geschichte sichern sollte. Der Massenexit zu seinen Ehren sollte der Höhepunkt seines spirituellen Experiments werden.“

Mit dem Tod Di Mambros war der Spuk aber noch nicht vorbei. 1995 fand die französische Polizei in einem Wald bei Grenoble 16 Leichen. Sie hatten dort den von ihrem Guru verheißenen Transit zum Sirius vollzogen. 1997 starben fünf Menschen in Kanada. Im Nebengebäude des ausgebrannten Landhauses mit den Leichen entdeckte die Feuerwehr drei verstörte Jugendliche. Sie berichteten, dass sich ihre Eltern mit drei weiteren Sonnentemplern auf die Reise zum Sirius gemacht hätten.