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Großstädters Traum

Die neue Sehnsucht nach dem Land

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

In vielen Dörfern bei uns leben Zugezogene aus den Großstädten. Unsere Autorin Annika Kiehn gehört zu ihnen – und bricht eine Lanze für einen Menschenschlag, der es nicht immer einfach hat.
Veröffentlicht:03.04.2018, 20:37

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Am Wochenende fallen sie besonders auf, die Autos mit den „fremden“ Kennzeichen: Berlin, Dresden, Hamburg. Neben einer alten Kate, einem Bauernhaus oder gar einem verwilderten Gutshaus parkend verraten sie: Hier sind Sehnsüchtler zugange, jene Großstädter mit dem mehr oder weniger plötzlich entstandenen Wunsch nach einem rustikalen Leben.

Schon lange gehören diese Menschen zum ländlichen Bild dazu wie Wiesen, Weidetiere und Windräder. Argwöhnisch verfolgen die Einheimischen, was die „Zugezogenen“ in den leeren Häusern treiben, wo einst der mürrische Fritz wohnte oder die gutherzige Erna. Während die inzwischen zusammen im Himmel Karten spielen, machen sich die Neuen an ihre Hinterlassenschaften, werkeln und buddeln, was das Zeug hält und lächeln dabei auffällig oft vor sich hin. Der Rest des Dorfes fragt sich unterdessen: Wer sind die? Und was haben die vor?

Urbane Pioniere in der Provinz

Der Sehnsüchtler an sich ist voller Tatendrang. Der Alteingesessene nimmt dies mit mäßiger Begeisterung auf, zumal dann, wenn die „Neuen“ sich nicht in die Dorfgemeinschaft integrieren und allenfalls zum Plausch am Gartenzaun bereit sind, wenn sie sich eine Schubkarre oder einen Anhänger ausleihen wollen. Neuzugänge, zumal von Menschen, die nicht ans Dorfleben gewöhnt sind, wirbeln das Vertraute auf wie ein mittelschwerer Sturm. Die „Neue Ländlichkeit“ hält Einzug.

Unter diesem Begriff fasst der Historiker Wolf Schmidt ein Lebensmodell zusammen, das mit dem Wunsch nach einem naturverbundenen Leben einhergeht. Dabei von einem Aktionismus gekennzeichnet, der sich in eben jenen kleinen Stürmen äußert, die derzeit auch vielerorts das Hinterland von Mecklenburg-Vorpommern und der Uckermark aufwirbeln. Künstler, Wissenschaftler, Freiberufler, Lebenskünstler – eine Bewegung aus meist urban geprägten Pionieren macht sich auf in die Provinz, die eigentlich seit Jahren von Abwanderung, Entvölkerung und Überalterung geprägt ist.

In seinem Buch „Luxus Landleben“ hält Wolf Schmidt, Gründer der Mecklenburger Anstiftung, düsteren Statistiken zu Landflucht und dem Ansturm auf die Städte ein Gefühl entgegen, das alle Negativ-Prognosen aushebelt: „Das Institut für Demoskopie Allensbach fragt seit über einem halben Jahrhundert, ob die Menschen in der Stadt oder auf dem Land „mehr vom Leben haben“. 1956 hielten 54 Prozent die Stadt für den besseren Ort, 1977 noch 39 Prozent und 2014 nur noch 21 Prozent. 40 Prozent dagegen meinten, auf dem Lande sei man glücklicher. Das Land wurde von allen Befragten – ob in Groß- oder Kleinstädten oder auf dem Lande – bevorzugt.“

Lust auf „Horch-wie-schön-die-Vögel-zwitschern-Ruhe”

Da haben wir’s! Das Dorf mausert sich zu einem ernst zu nehmenden Gegenentwurf zur Stadt und findet immer mehr Anhänger. Was paradox wirkt angesichts der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Gerade junge Menschen ziehen in Scharen vom Land in die mittleren und großen Städte, wo deswegen die Mieten explodieren. Aber das nehmen die Landflüchtlinge, so scheint es, zunächst klaglos in Kauf.

Angesichts einer materiellen Übersättigung, in der wir uns alle Wünsche mit einem Fingerschnippen erfüllen können, begehren gerade Großstädter inzwischen wieder das, was nicht im Supermarkt-Regal zu finden ist: Ruhe zum Beispiel. Echte Ruhe. Keine „Ich-setz-mir-Kopfhörer-auf-und-dann-höre-ich-nichts-mehr-außer-Musik-Ruhe“, sondern „Horch-wie-schön-die-Vögel-zwitschern-Ruhe.“ Das Lagerfeuer bei klarem Sternenhimmel, frisch gepflückte Pilze aus dem Wald oder farbgewaltige Sonnenuntergänge, bei denen man heulen möchte.

Angesichts astronomisch steigender Mieten in den Städten schwingt die gute Aussicht mit, im Alter mietfrei zu wohnen, dank einer moderaten Investition, wie sie auf dem Land noch möglich ist. Warum also nicht mal ein altes Haus sanieren, anstatt in einer mittelgroßen Großstadtwohnung vor sich hinzudümpeln?

Plötzlich gibt’s wieder einen Treffpunkt im Dorf

Denn mal ehrlich: Die Frechheiten der Großstadt sind irgendwann auch nicht mehr lustig. Dagegen verspricht die „Neue Ländlichkeit“ eine nie zuvor da gewesene Lebensqualität und jede Menge Abenteuer. Während die Übersättigung der Großstadt die Suche nach Individualität häufig erschwert, offenbart sie sich auf dem Land so deutlich wie der Grund im klaren Wasser des Stechlinsees.

Nicht selten entsteht dabei Neues in einem Tempo und einer Vertrautheit, die in der Stadt unmöglich werden. Es gab seit Ewigkeiten keine richtige Fete mehr im Dorf? Dann lasst es uns angehen! Es gibt keinen guten Kaffee? Lass uns ein Café aufmachen! Es gibt keine Kneipe? Komm, wir lernen, Bier zu brauen!

Und auf einmal gibt es wieder einen Treffpunkt im Dorf, und die Gesichter der Bewohner glühen vor Freude über die aufblühende Geselligkeit, die sie so lange vermisst haben, seit das Gutshaus oder die Gaststätte als natürliches Wohnzimmer des Dorfes ihre Bedeutung verloren haben.

Die "Neue Ländlichkeit" erfordert Mut

Die Neuen bringen einen ordentlichen Schwung Optimismus mit, der ansteckend sein kann und einen Ort aufwecken kann wie einen trägen Hund, dem man ein Stückchen Schinken vor die Nase hält. Es kann für alle was drin sein. Die Zugezogenen sind darüber natürlich erst recht glücklich, denn sie entdecken eine neue Form der Menschlichkeit, die von Wohlwollen gespickt ist.

Das alles will hart erarbeitet sein, das wissen die Sehnsüchtler, die noch immer abends vor ihren Rechnern hocken und sich durch die Immobilienportale klicken. Dabei träumen sie von einem Leben mit weniger Hektik und eigens geernteten Tomaten, obwohl sie sich ja doch nicht trauen werden, es zu wagen. Die Neue Ländlichkeit erfordert nämlich Mut. Den Mut, sich festzulegen und die Unentschlossenheit aufzugeben, die mit den Verführungen der Großstadt kompensiert werden kann. Die Neue Ländlichkeit sucht bewusst die Begegnung mit anderen, vor allem aber mit sich selbst. Darin besteht die Herausforderung: sich innerhalb dieses Mikrokosmos zu emanzipieren und es sich darin gemütlich zu machen. Wenn das geschafft ist, folgt die Belohnung – die Ruhe, die Sonnenuntergänge und das selbstgebraute Bier, dass man zusammen am Lagerfeuer trinkt.