Der Ladespeicher ist bereits halbleer, als die Aufzeichnung beginnt. Eine knappe Stunde später wird er am Ende sein – und der Zuschauer im besten Sinne am Anfang eindrücklicher Nachwirkung dessen, was er da gesehen hat. Diese Wirkung erzielt „Die Wand“, die neue und erstmals filmisch konzipierte Inszenierung der Theater und Orchestergesellschaft tog, die seit Montag auf deren digitalen Kanälen abrufbar ist.
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Aus dem Roman von Marlen Haushofer, der ein halbes Jahrhundert nach seiner Veröffentlichung in den vergangenen Jahren noch mal so richtig Furore machte, entwickeln drei Schauspielerinnen unter Regie von Joris Löschburg eine intensive Begegnung mit dem Publikum. Ja, drei: Es ist ein gelungener Kunstgriff, die Geschichte der unversehens im Gebirge allein von einer unsichtbaren Wand umgebenen Ich-Erzählerin durch drei Frauen zu verkörpern. Sie geben dem Textfluss Dynamik, indem sie auf verschiedene Weise Untiefen der äußeren Umstände und des inneren Seins ergründen.
Intensiver kann der Dialog mit Zuschauern nicht sein
Zweiflerische Selbstbefragung, pragmatische Alltagsorganisation um des eigenen Überlebens willen, forschende Gedanken über die bewusste Vernichtung der gewohnten Welt sind Facetten, mit denen Karen Kanke, Anika Kleinke und Lisa Scheibner ihre Figur ausloten. Frappierend unspektakulär regelt die Namenlose dabei ihre Existenz, baut Gemüse an, empfindet Verantwortung und Liebe für die – sagen wir: sich ihr anvertrauenden – Tiere ihrer kleinen Welt; im Kontrast zu der emotionalen Distanz gegenüber ihren halbwüchsigen Kindern dort im verschwundenen Leben. „Nur wenig Sympathie“ bekundet sie auch für ihr früheres Ich: „eingeklemmt in eine Fülle von Pflichten und Sorgen ... eine geplagte, überforderte Frau mit mittelmäßigem Verstand in einer Welt, die Frauen gegenüber feindlich gesinnt war“.
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Nicht nur hier weitet das Stück den gedanklichen Spielraum stark über eine individuelle Extremsituation hinaus. Ein Übriges leistet dabei der karge dunkle Bühnenraum. Die Inszenierung bezieht ihre Wirkung ganz aus dem schauspielerischen Können der drei Akteurinnen, sei es in flüssig montierten Solo-Passagen, die sich in ausgefeilter räumlicher Konstellation zum Ganzen fügen, oder wenn sie in der Nahaufnahme direkt in die Kamera sprechen. Intensiver kann der Dialog mit dem Zuschauer nicht sein.
Unterrichts-Angebot für Schulen
Auch insofern ist „Die Wand“ eben nicht die Video-Version eines Bühnenstücks; ebenso wenig eine Literaturverfilmung: Es ist tatsächlich eine eindrucksvolle Symbiose aus theatralischer Erzählweise und filmischen Mitteln. Mit der klugen Kamera- und Schnittführung von Alex Klug, der stimmigen Soundkulisse von Ludwig Meckel sowie dankenswert sparsam eingesetzten visuellen Effekten formt sich LöschburgsInszenierung zu einem Theater-Erlebnis sehr besonderer Art.
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Bis zum 24. Februar ist „Die Wand“ über den Online-Auftritt und den YouTube-Kanal der Theater und Orchester GmbH abrufbar, anschließend als Video on demand. Zudem wird die digitale Produktion samt Unterrichtsmaterial für Schulen angeboten unter www.tog.de. Weitere digitale Angebote der tog sind die Heiner-Müller-Collage „Ohne Hoffnung und Verzweiflung“ (bis 9. Februar), Mitschnitte vom Jubiläumskonzert der Neubrandenburger Philharmonie und der Veranstaltung „Unsere Welt neu denken“, die Reihe „Kleine Kunst im Stream“ sowie der „Antike-Baukasten“.