Wo soll die Grenze verlaufen? Die Grenze zwischen Tourismus um jeden Preis, zwischen Geldverdienen mit Gästen und der Befriedigung einer nach wie vor ungebrochenen Nachfrage nach Urlaub am Meer einerseits, und andererseits dem Bewahren von ursprünglicher Landschaft, den Befindlichkeiten von Anwohnern und dem Aufbegehren gegen die gefühlte Machtlosigkeit gegenüber finanzstarken Investoren. Was wollen wir noch in unseren Dörfern und Städten – und was wollen wir nicht mehr?
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Diese Frage stellen sich seit Langem viele Menschen in den beliebten Urlauberregionen in Mecklenburg-Vorpommern, und sie alle sollten sich Christoph Eders Dokumentation „Wem gehört mein Dorf?” sehr aufmerksam ansehen. Denn Eders Film vermag es, am Beispiel von Göhren auf der Insel Rügen die wesentlichen Fragen im Kopf des Zuschauers entstehen zu lassen, die die Entwicklung eines Ortes im Zeichen des Tourismus betrifft.
Tiefe Einblicke in die Kommunalpolitik
Die Kamera von Domenik Schuster bleibt dabei nahe an den Handelnden, lange Einstellungen erlauben dem Zuschauer des 96 Minuten langen Films, den Argumenten pro und contra in Ruhe zu folgen. Dem selben Ziel dienen die vielen und naturgemäß höchst unspektakulären Szenen aus Gemeinderatssitzungen sowie die sparsam dosierten, aber immer persönlich gefärbten Auftritte von Eder selbst als Interviewpartner oder Off-Sprecher.
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Dass der Filmemacher dabei eine klare Haltung erkennen lässt, verwundert wenig. Zu mächtig scheint Großinvestor Wilfried Horst, der seinen Profit dem idyllischen Caspar-David-Friedrich-Blick, dem Biosphärenreservat am Rande von Göhren und den Wünschen mancher Einheimischer vorzieht. Zu desillusionierend auch die Einblicke in die kommunalpolitischen Entscheidungswege, zumindest in der ersten Filmhälfte: Die Mehrheit der Gemeindevertreter ist auf Horsts Seite, ein weiterer Ausverkauf von Göhren scheint unvermeidlich.
Anschauliche, unaufgeregte Doku
Dass es anders kam, ist das verdiente Glück des Langzeit-Dokumentationsfilmers: Menschen dabei zu beobachten, wie sie wieder an die Kraft der Demokratie zu glauben beginnen, ist nicht zufällig ein beliebtes Kinofilm-Motiv – doch das hier ist die Wirklichkeit. Eders Privatvideo-Ausflug in seine Skateboard-Jugend hätte es mitten im Film dafür gar nicht gebraucht, der wirkt wie eine formale Zäsur, wo es diese gar nicht gebraucht hat. Zu spannend die aktuelle Realität: Setzt sich der Investor mit seinem neuesten Bauprojekt durch, oder kann die Bürgerinitiative das Ruder noch herumreißen?
Wie der Tourismus in MV und speziell an der Ostseeküste künftig idealerweise ausgestaltet werden soll, ist eine der großen Gegenwartsfragen im deutschen Nordosten. Weil Christoph Eder es bei diesem Thema geschafft hat, seine eigene Geschichte und die Antriebskräfte seiner Protagonisten auf beiden Seiten in eine anschauliche, unaufgeregte Dokumentation zu flechten, ist es zu verschmerzen, dass ausgerechnet der Investor nicht zu Wort kommt – Wilfried Horst wollte sich vor der Kamera nicht äußern.
Trotzdem steht das Publikum am Ende des Film mittendrin in der Problematik. Es kann sich nun selbst Fragen stellen und nach den Antworten suchen. Wie viel Tourismus ist gut für einen Ort? Funktioniert diese Demokratie eigentlich noch? Ist der Kapitalismus zu stark geworden? Und: Welche Meinung hätte ich selbst, würde ich in Göhren wohnen? Denn das nächste Hotel, die nächsten Ferienwohnungen, die nächsten Bauprojekte werden kommen – vielleicht dann ja bei einem selbst um die Ecke.