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Mindestmengen für Operationen

Druck bei Fallzahlen bedroht auch Lungenkrebs-Chirurgie

Waren / Lesedauer: 5 min

Krankenhäuser in MV können steigende Mindestmengen-Forderungen nicht erfüllen. Ein Warener Lungenkrebs-Chirurg warnt vor einer „Bedrohung der Patientenversorgung im ganzen Land.”
Veröffentlicht:11.01.2023, 12:12

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Der Kampf um die Frühchen-Versorgung am Neubrandenburger Klinikum lenkt den Blick auf steigende Mindestmengen-Forderungen, mit denen die Zukunft lebenswichtiger Behandlungen an Krankenhäusern in MV in Frage gestellt wird.

So auch die operative Entfernung von Lungenkrebs: Vor einer „Bedrohung der Patientenversorgung im ganzen Land” warnt Dr. Wolfram Klemm, Chefarzt der Klinik für Thorax- und Gefäßchirurgie am Müritz-Klinikum Waren. Nordkurier-Reporterin Susanne Schulz sprach mit ihm über das Netzwerk Lunge Müritz, irreführende Zahlen und Erwartungen an die Politik.

Der gesetzlichen Vorgabe zufolge sollen Thorax-Operationen zur Entfernung von Lungenkrebs ab 2025 nur noch an Kliniken erfolgen, die mindestens 75 solcher Fälle pro Jahr nachweisen. Was bedeutet das für Ihre Klinik und die Versorgung im Land?

Im Gegensatz zu anderen Bereichen, in denen die Mindestmengen stufenweise angehoben werden, steht hier aus dem Nichts die Forderung nach 75 Operationen jährlich im Raum. Schlagartig solche Fallzahlen zu definieren, stellt ein Problem dar, besonders in Mecklenburg-Vorpommern. Wir sind das einzige Bundesland, in dem es bislang kein zertifiziertes Lungenkrebszentrum gibt – trotz zweier Universitätskliniken, zweier Maximalversorger und der Spezialisierung unseres Krankenhauses, das im Netzwerk Lunge Müritz mit der Lungenklinik Amsee und der Evangelischen Lungenklinik Berlin zusammenarbeitet. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Mindestmenge nicht auf die Thoraxchirurgie insgesamt bezogen wird, sondern ausdrücklich auf anatomische Resektionen bei Lungenkrebs.

Welchen Rang hat dieser spezielle Eingriff innerhalb des Fachgebiets?

Lungenkrebs ist die häufigste Indikation, das Herzstück der Thoraxchirurgie. Darüber hinaus kümmern wir uns unter anderem um Pneumothorax, Lungenabszesse, Pleuraempyem, die hochspezialisierte Lungenemphysemchirurgie, mein Spezialgebiet, sowie den gesamten Part der Thoraxtraumatologie. Diese Bereiche würden uns bleiben, aber das reicht nicht, um eine Thoraxchirurgie erschöpfend zu betreiben. Prinzipiell bin ich keineswegs gegen Mindestmengenregelungen. Sie sind nachgewiesenermaßen ein sinnvolles Steuerungsinstrument für Behandlungsqualität. Durch die dünne Besiedlung Mecklenburg-Vorpommerns wird es jedoch kaum möglich sein, die geforderten Zahlen zu erfüllen. Ohnehin sollten unbedingt qualitative Aspekte einbezogen werden.

Wonach könnte denn die Behandlungsqualität beurteilt werden?

Da gibt es viele Kriterien, wie sie etwa die Deutsche Krebsgesellschaft festgelegt hat. Zum Beispiel einen hohen Anteil von R0-Resektionen, was bedeutet, dass der Tumor komplett entfernt wurde, oder eine systematisch gut durchgeführte Entfernung von Lymphknoten. Zudem sind wir in der glücklichen Lage, im Netzwerk Lunge Müritz seit 2014 intensiv zusammenzuarbeiten mit der Lungenklinik Amsee und der Evangelischen Lungenklinik Berlin, die ein zertifiziertes Thorax- und Lungenkrebszentrum vorhält. Dieses Netzwerk vereint die Erfahrung dreier traditionsreicher Kliniken, ergänzt durch ambulante Kooperationspartner. Solche Strukturen sind neben der reinen Anzahl anatomischer Resektionen mindestens ebenso wichtig.

Wenn wir wiederum rein auf die Zahlen schauen: Wie viele Fälle stehen zu Buche, wie viel fehlt an den künftigen Mindestmengen?

Begonnen haben wir mit 10 bis 20 Fällen und konnten diese Zahl bereits deutlich steigern. Nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss G-BA Ende 2021 die künftige Mindestmenge festgelegt hat, wird im kommenden Herbst der Sachstand überprüft. 40 Fälle, wie sie im nächsten Jahr nötig werden, können wir erreichen, aber höchstwahrscheinlich nicht 75. Zudem erkennt der G-BA das Netzwerk-Profil nicht an, sondern besteht auf Fallzahlen pro Standort. Durch solche Festlegungen beginnt ein Konkurrenzkampf, in dem der freie Markt die Gesundheitsversorgung regulieren soll.

Ein gravierendes Problem dürfte auch darin bestehen, dass für ländliche Regionen mit großen Entfernungen dieselben Maßstäbe zugrunde gelegt werden wie für Ballungsräume, wo es nicht weit bis zum nächsten Maximalversorger ist.

Das sehe ich genauso. Berechnungen, denen zufolge im Bundesdurchschnitt die Fahrzeiten um 10 Minuten auf nur 33 Minuten steigen, sind in MV absolut nicht zutreffend. Hier sind Sie schon eine Stunde unterwegs, wenn Sie „in der Nähe“ wohnen. Ländliche Bereiche sind in diesen Berechnungen nicht berücksichtigt – das sollten sie aber.

Von wie weit her kommen Ihre Patienten?

Aus ganz Mecklenburg-Vorpommern, aber auch aus dem nördlichen Brandenburg, bei der Emphysemchirurgie sogar von der Insel Rügen. Davon abgesehen bin ich aber auch ein Verfechter einer umfassenden Versorgung vor Ort.

Wie steht es dabei um den Rückhalt von der bundesweit tätigen MediClin-Gruppe, zu der das Müritz-Klinikum gehört?

Wir hatten sehr gute Gespräche mit der Zentrale in Offenburg, die uns alle erdenkliche Kraft gibt. Unterstützung bekommen wir außerdem vom Medizinischen Versorgungsverbund Müritz e. V., einer gemeinsamen Initiative von Ärzten, Apotheken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesen. Ende April planen wir gemeinsam ein großes Lungenkrebs-Symposium.

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Welche Hoffnungen setzen Sie in die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigte Krankenhausreform, die medizinische gegenüber wirtschaftlichen Aspekten stärken soll?

Wir hoffen auf positive Auswirkungen. Aber zugleich kann ich mir schwerlich vorstellen, dass die Urheber des jetzigen Systems so recht davon abrücken. Das Gesundheitswesen hat sich von seinem primären Ansatz weit entfernt und mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot falsche Anreize geschaffen.

Was erwarten Sie in dieser Hinsicht wiederum von der Landespolitik, die Ausnahmegenehmigungen für mindestmengenpflichtige Behandlungen erlassen könnte, allerdings nur mit Einverständnis der Krankenkassen?

Land und Kassen sollten solche Ausnahmeregelungen ermöglichen, um eine flächendeckende Versorgung und auch die hier entwickelten Kompetenzen zu bewahren. Und um ein Lungenkrebszentrum in MV entwickeln zu können! Wenn das keiner schaffen sollte, müssten die Patienten künftig nach Hamburg beziehungsweise Großhansdorf oder Berlin fahren.