Betrachtung
Echter Ossi oder nicht? Eine sinnlose Suche nach Identität
Neubrandenburg
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Ostdeutsche verdienen weniger Geld und haben seltener Erfolg. Wer sind diese Menschen, wie kann man ihnen helfen? Das sollte eine absurde Debatte im Landtag klären. Carina Göls über die mentale Mauer.
Im 30. Jahr nach dem Mauerfall, den jeder Mensch aus Ost und West auf ganz eigene Weise erlebte, scheinen wir mehr denn je wieder eine Mauer aufzubauen, eine mentale, eine zwischenmenschliche. In der Hoffnung der Ostdeutschen, nicht nur ihre alte Welt, sondern auch ihre Würde zu retten.
Denn natürlich sind „Ossis“ in vielen Bereichen noch hinter ihren westdeutschen Kollegen. In den Jobs haben sie noch immer nicht viel zu sagen, denn sie sind viel seltener in Führungspositionen, sie verdienen weniger als „die im Westen“.
Wann ist man ein Ossi?
Um dieses in alle Lebenslagen reichende Problem ad absurdum zu führen, statt etwas für Gemeinsamkeit von Ost und West zu erkämpfen, beschäftigt sich die Landespolitik mit der Frage, wann man ein Ossi ist. Anlass ist eine Kleine Anfrage der Linken-Landtagsfraktion zum Anteil Ostdeutscher an wichtigen Posten der Landesverwaltung, wie Minister, Staatssekretäre, Hochschulrektoren oder Geschäftsführer von Unternehmen mit Landesbeteiligung.
Wenn es nach den Linken in #MV geht, gelten Menschen nur als #Ostdeutsche, wenn sie in der #DDR geboren wurden. In anderen Parteien kam die Idee nicht gut an.https://t.co/J1ssasi6bw @DIE_LINKE_MV @SPDMV @CDUMV
— Nordkurier (@Nordkurier) January 22, 2019
Als Ostdeutscher soll dabei nach Ansicht der Linken nur gelten, wer bis zum 31. Dezember 1975 in der DDR geboren wurde und dort bis 1989 oder kurz davor gelebt hat. Da kann man schon in eine Identitätskrise geraten: So sagte die Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Mecklenburg-Vorpommern, Claudia Müller: „Ich bin demnach keine Ostdeutsche.“ Sie ist Jahrgang 1981.
Kein Zug, kein Weg führt zur DDR
Es ist eine schwierige Situation: Wenn Großeltern dem Lebensende hin beispielsweise nach Schlesien oder in andere Gebiete ihrer Kindheit wollten, wenn es sie an jene Orte zog, in denen sie wichtige Jahres ihres Leben verbrachten, dann ermöglichten ihnen ihre Familien oft diese vielleicht letzte Reise. Mit der DDR ist das anders: Man kann dorthin nicht zurück. Es gibt zwar den Boden, das Land, manche Gebäude, Bäume und viele Erinnerungen, aber es ist nicht mehr zu bereisen wie in eine längst vergangene Zeit. Kein Zug, kein Weg führt dahin zurück.
Und das ist auch gut so. Mit meiner Meinung stehe ich – zur Wende 19 Lenze und frisch immatrikuliert – vor allem bei Eltern und Großeltern oft allein da. Das verstehe ich. Denn dieses Stück „Reise nach Schlesien“ steckt in Menschen wie meinen Eltern, die mehr als die Hälfte ihres Daseins in der „Zone“ verbrachten. Klaglos. An alles gewöhnt und tatsächlich auf ihre Weise zufrieden.
„Was nützt es, wenn ich reisen kann, wohin ich will, wenn ich kein Geld dafür habe?“ – das ist nur eine Frage, bei der ich mich ärgere, wenn die Vergangenheit wie ewig drehende Platte gelobt wird. Natürlich wird einem nichts geschenkt. Natürlich gibt es große soziale Probleme. Und sie werden nicht kleiner durchs Klagen.
Freiheit ist nicht genormt
„Aber“, entgegne ich dann, „aber ihr könntet heute euer Bündel schnüren und in die Welt ziehen. Ihr könntet. Wenn ihr wolltet. Niemand wird euch dafür hinterrücks an der Grenze eine Kugel in den Körper jagen.“ Freiheit nennt man das. Und die ist nicht genormt. Die kann teuer oder kostenlos sein, je nach Gusto.
Die nötige Selbstständigkeit im neuen und von Millionen so gewolltem Land überfordert heute viele. Manche Menschen sehnen sich nach jemandem, der klar sagt, was sie eigentlich tun sollen. Und irgendwann kommt die Frage: Hatte das Ganze früher nicht doch seine guten Seiten?
Die Gruppe war wichtiger als jeder Einzelne
Zweifellos, aber die guten Seiten lagen sicher nicht am System, sondern in den einzelnen Biografien der Menschen im Osten. Denn was im Westen der gern zitierte Einzelkämpfer war auf dem Weg zum Erfolg, das hatte der Ostdeutsche in seiner Planwirtschaft nicht nötig. Die Gruppe war wichtiger als der Einzelne. Da muss man auch nicht immer bei allem der Beste sein, um zu glänzen. Nicht die schlechteste Philosophie, aber heute obsolet.
Das meint nicht, dass man sich anpassen und seine Herkunft leugnen muss. Aber man darf auch nicht von jedem von der „anderen Seite“ ad hoc Verständnis erwarten. Die politische Bildung in beiden Teilen der Republik hat Bilder gezeichnet, die sich verändern können, wenn alle genau hinsehen.
Wie bringen solche Erkenntnisse und Definitionen, wer nun ein „echter“ Ossi ist, unsere Gesellschaft weiter? Vielleicht ist es Zeit fürs Zuhören statt auf der Suche nach bestätigten Klischees zu sein. Für viel mehr Toleranz, so wie es junge Leute uns oft vorleben. Zeit fürs Zuhören, so wie viele es bei den Großeltern versäumt haben. Um zu verstehen, warum ein empfindlicher Bruch in der Biografie zwei Teile bringt, die sich aber bestenfalls gut zusammenfügen. Mit einem Wundmal. Vielleicht.
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ostdeutsche Erfahrungen und Identitäten
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