StartseiteRegionalMecklenburg-VorpommernGerecht ist anders – Warum der Osten weiter abgehängt wird

Erbschaften im Osten

Gerecht ist anders – Warum der Osten weiter abgehängt wird

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Ostdeutsche erben aus historischen Gründen deutlich weniger als ihre westdeutschen Mitbürger. Damit wird über Generationen hinweg die Ungleichheit zwischen den alten und neuen Ländern zementiert. Die Frage ist: Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der Gerechtigkeitsfalle?
Veröffentlicht:06.08.2020, 16:02

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Wenn Sie in den goldenen Jahren ihres Lebens sind, dann erfreuen Sie sich sicher an dem Gedanken, Ihren Kindern später etwas hinterlassen zu können. Ein Häuschen vielleicht oder eine kleine Geldspritze. In der Tat ist der Wunsch, dass die Kinder es später einmal besser haben sollen als man selbst, einer der Hauptgründe dafür, dass sich die Vermögensungleichheit in Deutschland immer weiter zuspitzt. Denn die Angst, dass das Erbe für die Kinder durch eine all zu hohe Besteuerung aufgefressen werden könnte, führt dazu, dass es nahezu keinen öffentlichen Rückhalt für eine Reform der Erbschaftssteuer gibt.

Das Resultat: Faktisch werden nach Berechnungen des Deutschen Institut für Altersvorsorge nur 2,8 Prozent des gesamten Erbschaftsvolumens – in Deutschland nach Schätzungen der Hans-Böckler-Stiftung jährlich bis zu 400 Milliarden Euro – überhaupt besteuert. „Der wichtigste Grund für die große Ungleichheit in Deutschland sind Erbschaften“, schrieb kürzlich der Präsident des renommierten Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, in einem Gastbeitrag für „Die Zeit“. Er fordert daher eine „radikale Reform der Erbschaftsteuer“.

Millionen im Westen, Armut im Osten

Die Gründe für die Ungleichheit zwischen Ost und West sind natürlich historisch bedingt: Während in Westdeutschland die „Wirtschaftswunderkinder“ den berühmten deutschen Mittelstand erschufen, wurden in der DDR Betriebe enteignet und verstaatlicht. Bürger konnten im Westen Kapital in Form von Geld, Gold, Aktien und Immobilien anhäufen, während der private Vermögensaufbau im Osten nur stark eingeschränkt möglich war.

Dadurch entstanden eklatante Unterschiede: Heute machen Ostdeutsche 15 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, stellen aber 20 Prozent der ärmeren Hälfte der Deutschen und nur 6 Prozent aller Millionäre. Allein der knapp 240 000 Einwohner zählende Hochtaunuskreis hat mit 278 Millionären pro 100 000 Einwohner zwanzig Mal so viele Reiche wie Ostdeutschland (14).

Wie hoch eine durchschnittliche Erbschaft ausfällt

In Mecklenburg-Vorpommern gibt es 17 Einkommensmillionäre pro 100 000 Einwohner, in Brandenburg 15, Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt mit 9. Das zeigt sich dann auch in der Höhe der Erbschaften: In Mecklenburg-Vorpommern werden durchschnittlich 52 000 Euro vererbt, in Brandenburg 64 000 Euro. Zum Vergleich: In Bayern liegt eine durchschnittliche Erbschaft bei 176 000, in Hessen bei 173 000 Euro. Dabei sind diese Zahlen bereits bereinigt um die vermögendsten zwei Prozent, die in überwältigender Mehrheit westdeutsch sind. Eine Einrechnung dieser würde die Statistik stark verzerren, auch bundesweit, aber vor allem im Ost-West-Vergleich. Insgesamt werden in Ostdeutschland nur 14 Prozent des vererbten Geldvermögens und 8 Prozent des vererbten Immobilienvermögens an die nächste Generation weitergegeben – bei 22 Prozent aller Erbschaften in Deutschland.

In der Wendezeit bestand zunächst die Hoffnung, dass sich die Vermögen in Ost und West im Laufe der Zeit angleichen würden. Doch diese erfüllte sich auch nach 30 Jahren nicht. Stattdessen sitzen wir in der Gerechtigkeitsfalle: Viele glauben, dass ihre Kinder ein Anrecht auf das volle Vermögen der vorhergehenden Generation haben. Doch gleichzeitig werden die Vermögensunterschiede zwischen Ost und West durch Erbschaften und ihre niedrige Effektivbesteuerung von Generation zu Generation getragen.

Nordosten sitzt auf einer „tickenden Zeitbombe“

In den kommenden Jahren könnte diese Schere gar noch weiter auseinandergehen. Dafür spricht erstens die Entwicklung der Immobilienpreise. Die Eigentumsquote ist in Ostdeutschland mit 33 Prozent deutlich geringer als in Westdeutschland (49 Prozent). Somit profitieren deutlich mehr Westdeutsche von den explosionsartig gestiegenen Immobilienpreisen der vergangenen zehn Jahre.

Hinzu kommt, dass es zuletzt zu starken Wertverschiebungen bei Immobilien kam. Während sich die Preise in den urbanen Regionen teilweise vervielfachten, zogen sie im ländlichen Raum nur schwach oder gar nicht an. Diese Entwicklung wird sich nach Expertenmeinung noch verstärken: In Abwanderungsregionen könnten Gemeinden aussterben, wodurch dortige Immobilien, wie heute schon in Teilen Italiens oder Spaniens, komplett wertlos würden. Gleichzeitig werden Eigentumswohnungen in Ballungszentren wie München, Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt für Normalverdiener praktisch unbezahlbar.

Zweitens vererben Ostdeutsche am liebsten Geldwerte. Renditetreiber wie Wertpapiere machen im Osten nur ein Fünftel des Erbschaftsvolumens aus, im Westen aber deutlich mehr als ein Drittel. Durch eine drohende Inflation und die anhaltende Niedrigzinsphase schrumpft Geldvermögen aber, anstatt sich zu vermehren.

Die Quittung für die hohe Arbeitslosigkeit

Und drittens wird die nächste Generation von Rentnern und Erblassern in Ostdeutschland von jenen Arbeitnehmern gestellt, die zwischen 1990 und 2005 aufgrund ihres Alters eigentlich den Höhepunkt ihrer Einkommensentwicklung erreicht haben müssten, aber mit einer extrem hohen Arbeitslosigkeit konfrontiert waren. Hinzu kommt der stetig expandierende Niedriglohnsektor im Nordosten: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden in Mecklenburg-Vorpommern seit zehn Jahren durchgängig die geringsten Gehälter in ganz Deutschland gezahlt, Brandenburg liegt nur knapp darüber.

Forscher warnen bereits, dass in 15 Jahren mehr als ein Drittel aller Rentner in Ostdeutschland unter der Armutsgrenze leben wird, in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg vermutlich sogar noch mehr. „Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe“, sagte Professor Ulf Groth, der an der Hochschule Neubrandenburg unter anderem die Entwicklung von Altersarmut erforscht. Anstatt ein Vermögen zu vererben, werden viele Rentner im Nordosten ihre Ersparnisse aufbrauchen oder gar Schulden zurücklassen.

Forscher schlägt ein „Erbe für alle“ vor

Diese Fakten wirken zunächst erdrückend. Doch das müssen sie nicht, denn die Debatte um eine zukünftige Verteilungsgerechtigkeit ist bereits in vollem Gange. Sie muss auch und vor allem in Ostdeutschland geführt werden, denn neben Frauen und Bürgern mit Migrationshintergrund profitieren Ostdeutsche am wenigsten vom Status Quo. Wie also könnte ein gerechteres Deutschland aussehen? „Die fehlende Gerechtigkeit, die viele in Deutschland empfinden, liegt nicht so sehr darin, dass einige wenige sehr viel Vermögen haben, sondern dass so viele so wenig haben“, schrieb Wirtschaftsforscher Marcel Fratzscher. Dadurch mangelt es vielen Menschen an einer fairen Chance, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Und wenn man mal von einigen wenigen Neidern absieht, dann ist es doch genau das, was die meisten Menschen im Leben wollen: eine faire Chance.

Fratzscher schlägt deshalb einen kreativen Ausweg aus der Gerechtigkeitsfalle vor: Er fordert ein „Lebenschancen-Erbe“. Jeder junge Mensch soll mit dem Abschluss seiner Ausbildung eine staatlich verordnete Erbschaft von 30 000 Euro bekommen, die er frei in die Entwicklung seines Lebensplans investieren kann. Damit stünde jedem Bürger frei, sich nach eigenen Fähigkeiten, Wünschen und Neigungen zu entfalten. Natürlich würde dadurch nicht verhindert, dass „die Reichen immer reicher werden“, wie es so oft heißt. Doch das ist vielleicht gar nicht mal so schlimm, solange wir uns eine Gesellschaft teilen, in der alle Bürger ein Mindestmaß an Erfolgschancen im Leben haben.