StartseiteRegionalMecklenburg-Vorpommern▶ Neuartige Windkraftanlage soll sich den Ostsee-Wellen stellen

„Nezzy”

▶ Neuartige Windkraftanlage soll sich den Ostsee-Wellen stellen

Vierow / Lesedauer: 5 min

Schon auf den ersten Blick sieht man: „Nezzy” ist ein ganz besonderes Windrad. Dabei bleibt einem die eigentliche Sensation dieser Offshore-Windkraftanlage sogar noch verborgen.
Veröffentlicht:22.09.2020, 11:13

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Eine leichte Brise zieht über den Greifswalder Bodden und hält die Zwillingsrotoren von „Nezzy“ am Südufer in Bewegung. Im Hafen Vierow, nur 650 Meter von der schwimmenden Windkraftanlage entfernt, steht ihr Erfinder.

Sönke Siegfriedsen ist Ingenieur aus der Kleinstadt Büdelsdorf in Schleswig-Holstein und führt dort seit 1997 das Unternehmen aerodyn engineering. Zuletzt hat er sechs Jahre lang an einem Windkraftprojekt getüftelt. Nun blickt er zum ersten Mal hinaus auf die See zu seiner Kreation.

Modell im Maßstab 1:10

„Nezzy“ ist noch eine Studie, ein Modell im Maßstab 1:10. Siegfriedsens Lösung ist 18 Meter hoch und unterscheidet sich auffällig von allen anderen Offshore-Windkraftanlagen, die inzwischen auf Nord- und Ostsee Strom produzieren, denn sie hat gleich zwei Rotorblätter.

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„Vor zwei Jahren hatten wir in japanischen Gewässern zunächst eine schwimmende Modell-Plattform in gleicher Größe mit nur einer Windkraftanlage getestet“, sagt der Entwickler. Doch dann sei seinem Team die Idee gekommen, dass zwei Rotorblätter auf einem Schwimmfundament eigentlich mehr Sinn machen würden, weil Kosten für die Fundamente halbiert und der Ertrag verdoppelt würden.

„Nezzy” soll sich gegen Wellen beweisen

Außerdem müsste durch die nebeneinander liegenden Rotoren der Angriffspunkt für den Wind deutlich tiefer liegen als bei nur einem großen Rotor, wodurch die schwimmende Anlage an Stabilität gewinnen könnte. Zumindest hatten das Tests mit einer Mini-Anlage im Maßstab 1:36 in einem künstlichen Wellenkanal im irländischen Cork gezeigt.

Ob das in der Praxis tatsächlich auch so ist, soll nun bis Ende November auf dem mitunter auch ruppigen Greifswalder Bodden getestet werden. Seine Schwimmfähigkeit hatte „Nezzy” unlängst schon in einem Baggersee zwischen Bremerhaven und Cuxhaven bewiesen.

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Windkraftanlage wird 180 Meter hoch

Nun aber kommt der Wind- und Wellentest. „Wir brauchen eigentlich gar keinen echten Sturm“, sagt der Erfinder. Eine Wellenhöhe von einen Meter würde schon genügen, denn sie würde ja eine Zehn-Meter-Welle für das später geplante, 180 Meter hohe „Kraftwerk“ simulieren.

Auch eine zweite Neuerung soll die Boddenerprobung unter Beweis stellen: Während andere, in der Entwicklung befindliche Schwimmvarianten eine starre, ortsfeste Mastanlage vorsehen, wird „Nezzy“ von einer mit sechs Seilen verspannten Boje mit einem Lager getragen. Dieses Lager ermöglicht es, dass sich die Anlage je nach Windrichtung optimal ausrichten kann.

Betreiber der Windparks Baltic 1 und 2 unterstützt das Projekt

Geht alles gut, dann soll im kommenden Jahr die zehnmal größere Anlagenschwester mit zwei 7,5-Megawatt-Rotoren gebaut werden. Wichtigster Interessent und Unterstützer des schätzungsweise 30 Millionen Euro teuren Projekts ist derzeit der deutsche Energieversorger EnBW, der vor Mecklenburg-Vorpommern bereits die fest installierten Windparks Baltic 1 und 2 betreibt.

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„Wir wollen das innovative System ab Ende 2021 mit Unterstützung eines chinesischen Partners mit Seilen am tiefen Meeresboden vor der Küste Chinas erproben, um die Marktreife von Nezzy zu dokumentieren“, kündigt Hannah König an, die bei EnBW das Ressort „Wind und maritime Technik“ leitet. Das Potenzial sei riesig, betont die Expertin.

Meerestiefen jenseits der 50-Meter-Grenze für Offshore-Windkraft

Für diese neue Technik kämen auch Länder und Meeresflächen mit Wassertiefen jenseits der 50-Meter-Grenze für Offshore-Windkraft in Betracht. Auch EnBW plant künftig schwimmende Windparks zu installieren. Denkbar seien Anlagen in der Nordsee, bestätigt Unternehmenssprecherin Stefanie Klumpp.

„Vor allem aber ist für uns Frankreich ein interessanter Markt, wo wir mit unserer Tochter VALECO Projekte für die französische Mittelmeerregion prüfen.“ Auch vor Taiwan und den USA möchte der Stromriese möglichst ab 2027 schwimmende Windparks in tieferen Seegebieten installieren.

Schwimmende Windanlagen gelten als Offshore-Markt der Zukunft

Weltweit wird der allergrößte Teil der Meereswindparks bislang in den vergleichsweise flachen Randmeeren installiert. Wegen ihrer Nähe zur Küste sind sie vielerorts aus unterschiedlichen Gründen umstritten.

Schwimmende Systeme dagegen, die nur mit Seilen im Meeresboden verankert werden, eignen sich dagegen auch für Hochseegebiete mit mehr als 50 Metern Tiefe. Experten und die Energiebranche sehen in ihnen sogar schon den Offshore-Markt der Zukunft.

Bislang wurden weltweit schwimmende Windkraftanlagen mit einer kumulierten Leistung von insgesamt nur etwa 73 Megawatt installiert. Um die Entwicklung solcher Systeme, die immer effizienter zu errichten und zu betreiben sind, ist inzwischen ein internationaler Wettstreit entbrannt. Zu den Vorreitern zählen Unternehmen in Norwegen, Schottland, Portugal, Japan, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Deutschland.

Neben aerodyn engineering in Schleswig-Holstein beschäftigt sich seit mehreren Jahren auch die sächsische Ingenieurfirma GICON mit der Entwicklung eines schwimmenden Offshore-Fundaments (SOF) mit sechs Megawatt Leistung. Es wurde schon vor vier Jahren in Stralsund mit Förderung des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern in Originalgröße gebaut.

Die Installation der Pilotanlage in der Ostsee verzögerte sich jedoch bis heute. Laut GICON-Sprecher Jan Claus wurden inzwischen Wind- und Wellentests in Nantes (Frankreich) sowie Transport- und Installationstest im schwedischen Göteburg absolviert. Derzeit würden weitere Tanktests für größere Turbinen vorbereitet.