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Uraufführung

▶ Hörspiel gibt Chance zur Versöhnung

Waren / Lesedauer: 5 min

Eine Deutschstunde über Goethes Faust sorgte einst für einen politischen Eklat am Warener Gymnasium. Was vor genau 38 Jahren passierte, erzählt das Hörspiel Gretchenfrage 2.0. Zur Premiere trafen einige Akteure aufeinander.
Veröffentlicht:14.11.2019, 10:09

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Die Aula des Warener Richard-Wossidlo-Gymnasiums war für den Lehrer Jürgen Raßbach einst ein Ort der Freiheit. Ein Raum, wo Träume fliegen lernten. Wo die Schüler des Dramatischen Zirkels auf den Brettern, die die Welt bedeuten, unter Raßbachs Leitung Theaterstücke aufführten, in denen Fragen gestellt wurden, für die abseits der Bühne kein Platz war. Jetzt ist Jürgen Raßbach zurückgekehrt. Denn in dieser Aula feierte am Dienstagabend ein Hörspiel Premiere, das vom Rauswurf des unbequemen Lehrers erzählt und das die Möglichkeit zur Auseinandersetzung und vielleicht sogar zur Versöhnung bietet.

Historische Genauigkeit

Viele ehemalige Lehrer und Schüler kamen zu der Premiere. Auch der langjährige Schulleiter Manfred Glaß, der damals zu den Kollegen von Jürgen Raßbach gehörte. „Diese Auseinandersetzung ist wichtig. Wichtig für die nachfolgende Generation, aber auch für uns, die damals dabei waren“, sagte Glaß.

Dr. Dorothea Rother und die Abiturientin Anne Moritz haben ihn und viele andere Zeitzeugen zu dem Fall Raßbach befragt und aus den Aufzeichnungen und Quellen ein Drehbuch für ein 36-minütiges Hörspiel geschrieben. „Wir haben uns um größtmögliche historische Genauigkeit bemüht. Alle Zeitzeugenzitate wurden autorisiert“, sagte Dorothea Rother. Der Gymnasiallehrerin für Latein und Religion ist es gelungen, dass einige Protagonisten wie Jürgen Raßbach, die Staatsbürgerkundelehrerin Charlotte Franzke, die Schülerinnen Astrid Rupprecht, Angelika Schulz und Petra Kawaletz ihre Rollen sogar selbst eingesprochen haben. Die Produktion des Hörspiels war eine Zusammenarbeit mit der Leiterin der RAAbatz Medienwerkstatt, Anja Schmidt, und Andy Krüger von der Medienanstalt Mecklenburg Vorpommern in Neubrandenburg. In den Herbstferien haben fünf Schüler des Gymnasiums gemeinsam mit Andy Krüger in einem Workshop das Material gesichtet, geschnitten und das Hörspiel produziert.

Gab Vorbehalte

Bei dem Projekt „Gerdas Geheimnis“ über das Schicksal der letzten noch in Waren geborenen Jüdin, Gerda Löwenberg, hatte Dorothea Rother von allen Seiten große Zustimmung bekommen, dieses Kapitel aufzuarbeiten. Als es jetzt aber um den Fall Jürgen Raßbach ging, gab es Vorbehalte im Kollegium, wie Schulleiter Kai Behrns sagte.

Kam das Hörspiel zu früh oder zu spät? „Es war der richtige Zeitpunkt“, sagte Dorothea Rother. Sie wollte nicht bis zur nächsten Generation warten und schloss das Projekt rechtzeitig zum 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls und des 150-jährigen Bestehens des Gymnasiums ab.

Entlassener Lehrer hält sich mit Jobs über Wasser

Es war der 13. November 1981, der das Leben von Jürgen Raßbach für immer änderte. Der Deutschlehrer behandelte Goethes „Faust“ und eine Schülerin der 10 B2 stellte ihm die Gretchenfrage. „Ich war mir der besonderen, der außergewöhnlichen Situation wohl bewusst. Alles war offen. Ich hätte ausweichen können oder die Frage wegwischen, überhören oder mir auch verbitten können“, erzählt Raßbach in dem Hörspiel. Er tat es nicht. Er zeigte Gesicht und brachte damit das Fass zum Überlaufen.

Raßbach wurde aus dem Schuldienst entlassen, bekam Berufsverbot und durfte auch keine Schule mehr betreten. Er schlug sich durch, fand Arbeit als Beifahrer, später als Bauhilfsarbeiter und begann zu schreiben. Am Kirchlichen Oberseminar in Potsdam-Hermannswerder unterrichtete er schließlich wieder Schüler, die aufgrund ihrer Kirchenzugehörigkeit kein Abitur machen durften.

Hätte an alte Schule zurückkehren können

Nur wenige Tage nachdem die Mauer gefallen war, bekam Jürgen Raßbach einen Brief aus dem Kollegium. Ein Auszug davon wird im Hörspiel vorgelesen. „Nach nahezu einem Jahrzehnt ist es uns ein aufrichtiges Bedürfnis, mit Ihnen in Kontakt zu treten, um Ihnen zu versichern, dass wir die schmachvolle Behandlung, die Ihnen widerfuhr, in wacher Erinnerung haben. Wir wissen, dass unser Bedauern nichts ungeschehen machen kann, vielleicht aber tut es Ihnen wohl, zu erfahren, dass der wohl größere Teil des Kollegiums Ihre Entlassung mit Entsetzen verfolgt hat und leider tatenlos zusah. Sicher offenbarte unsere Passivität wenig Heroismus, vielmehr die Angst um die eigene Existenz. Wenn wir Ihnen heute mit der Bitte um Entschuldigung gegenüber treten, wollen wir dies verbinden mit dem Angebot, zu erwägen wieder den Dienst an der EOS Waren aufzunehmen…“ Doch Raßbach blieb bis zu seinem Ruhestand Lehrer in Potsdam-Hermannswerder an der Schule, die inzwischen ein Evangelisches Gymnasium geworden war.

Bei der Premiere dankte er den Menschen, die solidarisch mit ihm waren und zu ihm standen, obwohl es für sie so gefährlich war. „Diese Erfahrung möchte ich nicht missen“, sagte Raßbach und warnte davor, Pauschalurteile zu fällen. Stattdessen sollten Schüler Fragen über diese Zeit stellen. „Es gibt nur die individuelle persönliche Antwort“, sagte Raßbach. Das Hörspiel habe ihm geholfen und vielleicht habe es auch der Schule geholfen, sich der Geschichte zu stellen.

Schülerin macht sich schlimmste Vorwürfe

„Zu Hause haben wir anders geredet als in der Schule“, dieses Zitat der ehemaligen Schülerin Petra, habe Schulleiter Kai Behrns besonders bewegt. Es ist die Schülerin, die ihrem Lehrer die Gretchenfrage gestellt hatte und die sich über viele Jahre die schlimmsten Vorwürfe machte, dass sie schuld an seinem Berufsverbot sei. „Es darf nicht erlaubt sein, einen Lehrer derart einzuengen. Es darf noch weniger erlaubt sein, Kinder und junge Menschen solchen Situationen auszusetzen. Unterricht hat grundsätzlich frei zu bleiben von politischen und weltanschaulichen Einengungen. Das offene ungetrübte Gespräch darf durch nichts eingeengt werden. Schon von daher hat sich die Schule der Deutschen Demokratischen Republik ins Unrecht gesetzt. Ihre Lehrer haben sich zum größten Teil unterworfen. Sie haben einem System gedient, das auch sie vergewaltigte“, sagt Jürgen Raßbach zum Ende des Hörspiels.