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Nach 40 Jahren

Landarzt aus Hohen Wangelin schließt Praxis

Hohen Wangelin / Lesedauer: 6 min

Vor zehn Jahren schon hat Dr. Lothar Kruse das Rentenalter erreicht. Damals aber verschwendete der Landarzt in Hohen Wangelin keinen Gedanken daran. Heute sieht das anders aus.
Veröffentlicht:29.12.2019, 10:51

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Jetzt ist Schluss. Dr. Lothar Kruse hat endgültig ernst gemacht: Mit 74 Jahren geht der Landarzt nun in den Ruhestand. Am Freitag fand die allerletzte Sprechstunde für seine Hohen Wangeliner statt. „Leicht wird mir das nicht fallen“, sagte Landarzt Kruse vor dem Praxis-Ende. Zu sehr ist sein Leben mit den Leben seiner Patienten verwoben. Wie sollte das nach fast vier Jahrzehnten als Arzt mitten im Dorf auch anders sein?

Dass Lothar Kruse 1979 mit seiner Familie nach Hohen Wangelin zog, war kein Zufall, sondern Ergebnis einer bewussten Entscheidung. Ursprünglich stammt Kruse aus Leipzig, sein weicher sächsischer Dialekt ist auch nach 40 Jahren im Mecklenburgischen nicht zu überhören.

Seine Facharzt-Ausbildung hatte Kruse in einem Krankenhaus in Bitterfeld absolviert. „Ich habe dort viel gelernt, viel gesehen“, erinnert sich Kruse. Dass nicht immer nur gute Erfahrungen dabei waren, hat ihm und seiner Frau zu denken gegeben. Freunde, die in leitenden Positionen in den Chemiebetrieben in Bitterfeld arbeiteten, warnten von Zeit zu Zeit: Macht eure Fenster heute nicht auf. Lasst eure Kinder morgen nicht draußen spielen! „Es gab Tage, da war der Spielplatz morgens plötzlich rosa gepudert, weil irgendeine Substanz sich dort abgesetzt hatte, die aus den Chemiefabriken kam“, berichtet Lothar Kruse von der Zeit, als seine eigenen Kinder noch klein waren. Mit seiner Frau hat er dann auf der DDR-Landkarte nachgeschaut, wo es grün und blau schimmerte, wo es Wald, Seen und gesunde Luft gab – in Mecklenburg.

Wohnort war einst Aushängeschild der DDR

Ein Jahr dauerte die Suche der Familie nach einem geeigneten Wohn- und Arbeitsort im Norden der Republik – und auch das Durchleuchten der Kruses. Denn auch in Mecklenburg gab es vieles, in dessen Nähe nicht jeder kommen sollte: In Warenshof die von der damaligen Sowjetunion stationierten Atomraketen zum Beispiel oder in Drewitz der Jagdsitz Erich Honeckers. Am Ende bekamen die Kruses das Okay für einem Umzug nach Hohen Wangelin.

Dort begann Lothar Kruse als Allgemeinmediziner in Hohen Wangelin, angestellt in der Malchower Poliklinik, sowie parallel als Betriebsarzt der großen Rinder-Mastanlage – einst das Aushängeschild des Ortes, der zu DDR-Zeiten seine Blütezeit hatte. Rund 1200 Menschen lebten damals in Hohen Wangelin von und mit der KiM, dem Kombinat industrielle Mast, wie der Betrieb genannt wurde. Rund 20 000 Rinder standen hier in den Ställen. Und die Menschen, die die Rinder versorgten, wohnten im Dorf. Große Plattenbauten entstanden, damit Wohnraum für alle im Dorf da war.

Auch Lothar Kruse und seine Familie hatten dort gewohnt. „Naja, es hat schon ein paar Jahre gedauert, bis ich als Zugezogener auf der Straße gegrüßt wurde“, erinnert er sich. Aber das alles habe ihm nichts ausgemacht – schließlich wollte er immer schon Arzt auf dem Lande sein. Ein Landarzt eben, mit engem Kontakt zu den Menschen.

Geburtshilfe im Notarztwagen

Als die Wende kam, ließ er sich in seinem Dorf als Hausarzt nieder. „Für mich war klar, dass ich meine Praxis in meinem Wohnhaus haben wollte. Wenn Landarzt, dann richtig, dann mit allem Drum und Dran“, sagt Lothar Kruse. Bereut hat er diese Entscheidung nie, sein ganzes Berufsleben hat er sich seinen Patienten gewidmet, von der Geburt bis zum Tod hat er seine Hohen Wangeliner begleitet. „Es war das ganze pralle Leben“, meint der 74-Jährige.

Nicht jeder Kopfschmerz muss eine CT-Untersuchung nach sich ziehen, nicht jeder Schnupfen ist eine Katastrophe und Grippe-Impfung ist Pflicht – ein bisschen erziehen wollte Kruse seine Patienten auch. Er wollte, das gibt er gerne zu, auch Lotse ihrer Leben sein.

Für Lothar Kruse ist das nicht bloß so dahingesagt: Er half einer Mutter zum Beispiel bei der Geburt – bis zur Poliklinik in Malchow hatte sie es nicht mehr geschafft. Das Kind, ein strammer Junge, kam mit Kruses Hilfe im Notarztwagen zur Welt und erhielt natürlich den Namen Lothar. „Aber ich habe auch Schweres erlebt: Ein Junge, den ich kannte, hat sich aufgehängt. Ich musste seinen Tod festellen. Es war schrecklich“, erinnert sich Kruse.

Kein Praxis-Nachfolger gefunden

Natürlich hat er nach einem Nachfolger für seine Landarzt-Praxis gesucht. Es waren zwar Interessenten da, aber nie wollte einer aufs Land. „Mir ist bewusst, was das für die Menschen hier bedeutet. Aber nun muss ich Schluss machen, ich bin schon zehn Jahre über meinem Rentenalter, auch bei mir fordert die Gesundheit ihren Tribut“, sagt Lothar Kruse. Nach der letzten Sprechstunde gab es noch eine Abschiedsfeier mit Sekt und Häppchen, gleichzeitig war es die Finissage für die Ausstellung der „Hohen Wangeliner Malweiber“, wie sie sich selbst nennen und die ihre Bilder viele Jahre in der Arztpraxis ausgestellt hatten. Auch ihre „Galerie“, die es immerhin seit 1995 in der Praxis gab, fällt mit der Schließung nun weg – leider, wie Lothar Kurse sagt. Und die Schließung bedeutet auch die Trennung von der Schwester, mit der er 40 Jahre als Team zusammen gearbeitet hat.

Er und seine Frau bleiben natürlich in Hohen Wangelin, das ihnen über die Jahrzehnte längst zur Heimat geworden ist – auch wenn es heute dort anders ist als vor Jahrzehnten. Von den rund 1200 Einwohnern einst sind nur noch rund 570 geblieben. Dass ihm, dem dann ehemaligen Landarzt, langweilig werden könnte, diese Befürchtung hat Lothar Kruse nicht.

Baden im See, wandern gehen, Radfahren – das alles steht auf dem Programm für die Zeit im Ruhestand. Und vielleicht kommt Lothar Kruse dann endlich mal dazu, Richard Wagners Opernzyklus „Ring der Nibelungen“ als mehrtägige Aufführung zu hören. „Das ging ja früher nicht, eine ganze Woche nicht in der Praxis zu sein“, sagt Lothar Kruse. Seine Praxis in Hohen Wangelin schloss er nun am 27. Dezember. Als Arzt war er dann aber ein einziges Mal noch unterwegs: Er wurde noch am 28. Dezember für den Notdienst in der Region Güstrow-Süd eingeplant.