Der Warener Peter Bülow hat seine Heimat 1995 verlassen. Der Maschinenbauingenieur ging erst nach Berlin und wanderte dann nach Andalusien aus. Dort lernte er seine heutige Frau Sonja kennen. Die studierte Fremdsprachen-Expertin wurde Angestellte beim Auswärtigen Amt, seitdem wechselt das Paar alle vier Jahre den Wohnort. Ihre erste Station war Harare, der Hauptstadt Simbabwes im südlichen Afrika. Dann ging es nach Bolivien, und seit vergangenem Jahr leben die Bülows in Houston, Texas. Für den Nordkurier schreibt Peter Bülow über seine Eindrücke.
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Es sollte nur ein schönes Wochenende werden
Als ein Abenteuer der ganz besonderen Art entpuppte sich die Idee für ein Weihnachtsgeschenk, das nicht als ein mit schmuckem Schleifenband umwickeltes Päckchen unter dem glitzernden Bäumchen landen kann. Ein Wochenende in der drittgrößten Stadt der USA am Michigansee für uns beide sollte es sein. Wir wollten die einzigartige Skyline Chicagos am Ufer eines der fünf großen Seen im Norden des Bundesstaates Illinois bestaunen und zwei Tage sollten genug Zeit sein, um den architektonisch beeindruckenden Teil der 2,7-Millionen-Stadt aufzusaugen. Und so waren ein paar preiswerte Flüge schnell gefunden.
Nur zwei Flugstunden
Mit dem Nötigsten im Rucksack ging es am Freitag, 10. Dezember, zum Houstoner Flughafen. Mit den Gedanken: Die knapp zwei Flugstunden sind schnell um, und morgen früh kann es gleich losgehen mit der Erkundungstour durch Straßen, in denen man eher nach oben schauen muss, um zu sehen, wo die zahllosen Türme aus Beton, Stahl und Glas wirklich aufhören. Zu der Zeit hatten wir noch nicht die geringste Ahnung von dem, was sich unter den Tragflächen unseres Airbusses A 320 auf Reiseflughöhe von etwa zehn Kilometern über dem winterlich dunklen Festland abspielen sollte.
Turbulenzen angekündigt
Als sich die Tür des fast ausgebuchten Jets schloss, sagte der Pilot die üblichen Worte zur Begrüßung mit der Information zum Wetter, das uns in Chicago erwartete. So ganz am Rande hatte das Wort „bumpy“ (holperig) meine Ohren unangenehm gestreift, weil das immer bedeutet, dass es während des Fluges Turbulenzen geben könnte, was relativ häufig vorkommt. Wie immer presste uns die ungeheure Beschleunigung der 32 000 PS auf der Startbahn in die weichen Sitze und die Lichter unter uns wurden immer kleiner. Bis dahin fühlte sich alles normal an mit Vorfreude auf den Bordservice. Sie schoben den Servierwagen durch den engen Mittelgang, als die stets freundlichen Flugbegleiterinnen etwa eine halbe Stunde nach dem Start aufgefordert wurden, ihre durstlöschende Tätigkeit zu unterbrechen. Die Anschnallzeichen leuchteten mit dem üblichen Ton auf, und auch der Gang zur Toilette wurde bis auf Weiteres untersagt.
Wie ein Riese mit einer Keule
Die zu erwartenden stärkeren Turbulenzen sorgten bei mir für ein etwas ängstliches Stirnrunzeln. Als bekennende Liebhaberin von Achterbahnen entlocken solche Ankündigungen meiner Frau Sonja hingegen immer vorfreudiges Grinsen. Einen Augenblick später fing das Flugzeug an, sich so heftig zu schütteln, dass ich mich an den Armlehnen festgeklammert habe, und mir eiskalte Angstschauer den Rücken rauf- und runterliefen. Schon oft hatten wir solche holperigen Abschnitte, die sich kaum länger als eine Viertelstunde hinziehen, aber dieses Mal wollte es einfach nicht wieder aufhören, und die Maschine bekam Hiebe ab, die sich anfühlten, als würde ein Riese mit einer Keule unter den Rumpf des Airbusses schlagen.
Eine Viertelstunde erscheint wie ein halber Tag
Meine Hilfe suchenden Blicke aus dem kleinen Kabinenfenster gingen direkt in die uns umgebende schwarze Finsternis, und tröstende Gedanken sausen einem durch den Kopf wie: Alle, die vorn im Cockpit unser aller Schicksal in ihren hoffentlich geschickten Händen haben, freuen sich sicher auf ein besinnliches Weihnachten mit ihrer Familie und werden alles dafür tun, alle knapp 180 Fluggäste heil auf die Chicagoer Landebahn zu bringen. In einer solchen Situation erscheint einem eine Viertelstunde wie ein halber Tag, und auf vielen Gesichtern war Angst zu sehen, bis auf denen mit geschlossenen Augen, die ganz cool wegen nicht vorhandener Bildschirme in den Sitzlehnen die Zeit für ein rütteliges Schläfchen nutzten.
Der nachträgliche Schock kam beim Fernsehen
Selbst die Landung in Chicago war so holperig, dass ich nach dem Stopp der Maschine beim Abschnallen erst mal tief durchatmen musste. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir nicht ahnen, welche tödliche Hexenküche wir gerade überflogen hatten. Dieser nachträgliche Schock kam erst in der Nacht zum Sonntag beim Fernsehen im Hotelbett. Nachdem klar wurde, dass wir uns flugtechnisch über ein Paket aus über dreißig der schwersten jemals in den USA wütenden Tornados geschüttelt hatten, hat das noch mal eine Gänsehaut verursacht, die noch stärker wurde nach dem Google-Blick auf unsere Flugroute, die genau über die am schwersten betroffenen Staaten Arkansas und Kentucky führte. Zur Krönung war dazu die Rede von etwa 100 Todesopfern und einer noch nicht zu beziffernden Zahl noch Vermisster. Der kleine Ort Mayfield in Kentucky wurde in eine Schneise totaler Verwüstung verwandelt, die einem Kriegsschauplatz glich. Eine Kerzenfabrik wurde bei laufender Nachtschicht von 110 Mitarbeitern dem Erdboden gleichgemacht.
Saugrüssel reißt selbst Busse nach oben
Da hatte ich dann endgültig weder Ohr noch Auge für irgendeinen Film, sondern musste flugs online erkunden, bis zu welcher Höhe in die Atmosphäre die Tornados als stärkste Form aller bekannten Arten von Stürmen ihre zerstörerischen und alles zermalmenden Kräfte bringen können. Während Strudel im Wasser alles sich Nähernde in die Tiefe reißen, funktionieren Tornados genau in die andere Richtung. Rotierende Luftmassen steigern sich bis zur Bildung eines Saugrüssels zum Erdboden, der mit Windgeschwindigkeiten von über 300 km pro Stunde alles bis zur Größe von Reisebussen nach oben schleudert oder auch Gebäude zerlegt und deren Einzelteile wie Geschosse durch die Luft fliegen lässt. Die meisten könnte man jedoch überfliegen, hieß es.
Dank an Piloten
Während sich die Hurrikane, die sich über dem Golf von Mexiko zwischen Juli und November zusammenbrauen, schon Tage vor ihrem Aufschlagen auf die Küste ankündigen, lassen sich Tornados kaum voraussehen. In dem Film „Twister“ von 1996 wird beschrieben, wie ein paar erfindungsreiche junge Amerikaner eine Methode finden, um ein Frühwarnsystem für die betroffenen Gebiete zum rechtzeitigen Schutz vor den alles nach oben saugenden Windhosen zu haben. Der Film endet mit einem bahnbrechenden Sammeln Tausender dafür erforderlicher Daten, was zu einer vorhersagbaren Wetterprognose führen sollte. Tatsächlich aber ist dieses System offensichtlich nie auf den Stand gekommen, dass man damit Menschenleben retten könnte durch rechtzeitiges Flüchten in unterirdische Schutzräume. Deshalb ein nachträglicher herzlicher Dank an unsere Piloten, jetzt kann Weihnachten kommen.