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Erinnerung an Verbrechen

Das lange Leiden nach dem Raubüberfall

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Ein 31-Jähriger muss nach 13 Jahren noch immer an den Moment eines Überfalls mitten in Neubrandenburg denken. Er hat eine Therapie begonnen. Aber seine beste Aussicht auf Heilung bleibt auch jetzt unerfüllbar.
Veröffentlicht:13.12.2019, 05:16

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Andreas Gemander (*) schwitzt – doch herrschen in dem kleinen Café in der Neubrandenburger Innenstadt gar keine hohen Temperaturen. Ab und zu hält er beim Sprechen inne und wischt mit der Hand die kleinen Schweißperlen von der Stirn. Andreas Gemander ist aufgeregt. Denn der 31-Jährige erzählt über sein schrecklichstes Erlebnis, an das er sich am liebsten überhaupt nie mehr erinnern möchte. Aber das klappt leider nicht. Gemander denkt daran, immer wieder und fast jeden Tag. Dabei sind seit jenem Nachmittag im Sommer 2006 schon 13 Jahre vergangen. Gemander war damals 18 Jahre jung, unbefangen und furchtlos. „Wovor“, sagt er, „sollte ich auch Angst haben“.

Heute weiß er das besser. Zum Beispiel fürchtet sich Gemander vor langen Messern. Dann, kehrt der junge Mann sein Innerstes nach außen, nehmen „Flashbacks“ von ihm Besitz und der Mecklenburger fühlt sich ruckartig in die Vergangenheit versetzt und durchlebt binnen weniger Sekunden das Erlebte erneut. Wieder und wieder. Denn Gemander wurde an jenem schicksalsschweren Nachmittag das zufällige Opfer eines Raubüberfalls. Unfassbar – mitten in Neubrandenburg an einem belebtem Platz. Der Schultag war beendet, der Jugendliche unterwegs zu seinen Kumpels. Da geschah das Unfassbare, ein unbekannter junger Mann griff ihn von hinten an, drückte ihm mit dem Unterarm den Hals zu und hielt ihm mit der anderen Hand ein Messer an die Kehle. „Ich sollte ihm meinen Rucksack und das Geld geben“, sagt Gemander und fängt wieder an zu schwitzen, „aber ich war wie gelähmt, konnte weder etwas sagen, noch mich bewegen. ich hatte nur irrsinnige Angst“.

Mit dem Messer in Richtung Brust gestochen

Der andere war dabei, ihm den Rucksack von den Schultern zu streifen, hielt dabei aber immer das Messer an den Hals seines Opfers. Und als der Rucksack irgendwo hängen blieb und der Räuber annehmen musste, Gemander hält den Rucksack fest, hat er mit dem Messer sogar in Richtung Brust zugestochen. Zum Glück nicht heftig genug, zu sehen war hinterher nur eine kleine Schramme. „Dann war der auch schon wieder weg“, schüttelt sich Gemander. Der danach ziellos durch die Stadt lief, „ich musste einfach nur in Bewegung sein“. Irgendwann zu Hause schlich er sich an den Eltern vorbei in sein Zimmer, warf sich aufs Bett und wollte nichts mehr hören und sehen.

Erst am nächsten Tag offenbarte sich das Überfallopfer seinen Eltern – und der Polizei. Die konnten so viel später nicht mehr viel ausrichten, der Täter, den Gemander nur vage beschreiben konnte, wurde wegen des Raubs nie zur Verantwortung gezogen. „Der mir das angetan hat, kam ohne Strafe davon“, sagt Gemander verbittert und hält das für einen Teil seines Problems.

Noch heute fürchtet sich der junge Mann vor Menschenansammlungen und geht nur sehr ungern allein nach draußen. Der junge Ehemann und Vater meidet, wenn immer möglich, die Innenstadt und geht bei Dunkelheit nur in Begleitung nach draußen. Seit zwei Jahren besucht Gemander Psychologen, um in der Traumatherapie einer Praxis in einer Universitätsstadt das Geschehen endlich verarbeiten zu lernen und ein freier Mensch zu werden. „Das wird langsam besser, ganz langsam“, sagt er, der trotzdem noch oft genug Tabletten schlucken muss, um gut und traumlos zu schlafen. Gut möglich, sein Leben wäre heute anders, wenn der Täter gefasst und in einer Gerichtsverhandlung verurteilt worden wäre. Seit 2013 steht in der Strafprozessordnung, dass Opfern bei der Zeugenvernehmung Gelegenheit gegeben werden muss, sich zu den erlittenen Tatfolgen zu äußern. Auch wenn das im Verlauf des Gerichtsverfahrens zusätzlich Zeit kosten kann. Das Gericht muss in Verhandlungsführung und Urteilsgründen zum Ausdruck bringen, dass der Täter dem Opfer Unrecht zugefügt hat. Gerade in Verhandlungen gegen Jugendliche drängt aber oft deren problematische Lebensgeschichte das von Angeklagten begangene Unrecht an Opfern wie Andreas Gemander leider in den Hintergrund.

„Sie haben mich schon nicht allein gelassen“

Über die „Nachsorge“ damals mag Gemander sich eigentlich nicht beklagen, besonders die Opferhilfsorganisation „Weißer Ring“ habe sich mächtig angestrengt, ihm zu helfen. Finanziell hat der „Ring“ unterstützt und den Schaden beglichen und ihn gleichzeitig aufgeklärt, wie sie ihm bei einem möglichen Gang vor Gericht als Hauptbelastungszeuge helfen können. „Die haben mich schon nicht allein gelassen“, sagt der junge Mann. Im Gegensatz zu einigen Passanten damals, die das schreckliche Geschehen beobachtet haben müssen. „Nicht einer kam mir zu Hilfe“, sagt Gemander immer noch verbittert. Später bei der Polizei musste er erfahren, dass in der fraglichen Zeit auch niemand aus der Nähe des Verbrechensortes den Notruf der Polizei gewählt hatte. „Warum nicht?“, zuckt Gemander mit den Schultern und hat das sogar lange Zeit persönlich genommen. „Und dann habe ich mich gefragt, wie ich mich wohl in einer solchen Situation verhalten hätte“. Dass sich der junge Mann keine eindeutige Antwort geben konnte, wurde dann zu einem Teil seines Problems.

Jede Woche fährt der Mecklenburger nach Vorpommern zu seinem Therapeuten. „Ohne meine Frau hätte ich das bestimmt nicht gewagt“, sagt er. Aber die wollte – auch um ihretwillen, dass es ihm endlich wieder richtig gut geht. „Es wird“, sagt er. Und darum will er die Geschichte auch erzählt wissen. Vielleicht kämen jetzt Opfer anderer Raubüberfälle besser mit dem Erlebten zurecht. „Zu wissen, andere leiden auch, macht manches vielleicht leichter.“

* Name von der Redaktion geändert