StartseiteRegionalNeubrandenburgDie „gefühllose Gesinnung“ von David H.

Mordfall Leonie

Die „gefühllose Gesinnung“ von David H.

Neubrandenburg / Lesedauer: 6 min

Schon der erste Prozesstag im Mordfall Leonie ließ in tiefste menschliche Abgründe blicken. An zwölf weiteren Verhandlungstagen will das Gericht Licht in das Dunkel der Geschehnisse bringen.
Veröffentlicht:25.09.2019, 06:00

Artikel teilen:

Es ist 9.43 Uhr, als sich alle Augen und Objektive auf die Eingangstür richten. „Da kommt er“, zischt es aus dem Publikum. „Er“ kommt in Handschellen und Fußfesseln. Vorgeführt von drei bewaffneten Polizisten. „Er“ ist der Stiefvater der toten Leonie. „Er“ steht unter dringendem Tatverdacht, das kleine Mädchen ermordet zu haben. „Er“ ist David H., ein 28-jähriger Mann, ohne Ausbildung und Beruf, von Hartz IV lebend.

+++ Video-Kommentar: Beim Leonie-Prozess tun sich Abgründe auf +++

Der Angeklagte hält sich einen Aktenordner vors Gesicht, hat die olivfarbene Jacke samt Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die blaue Jogginghose schlottert über den Beinen. Als sich David H. zwischen seine beiden Anwälte setzt, nimmt ihm einer der Polizisten die Handschellen ab. Die rasselnden Fußfesseln bleiben dran. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Januar, als der mutmaßliche Kindermörder zwischenzeitlich aus dem Polizeigewahrsam in Pasewalk geflüchtet und sieben Tage von der Polizei gejagt worden war.

Als ginge die Jagd im Gerichtssaal weiter, schleudert Oliver E., der leibliche Vater Leonies, dem Angeklagten verbale Breitseiten ins verdeckte Gesicht. „Du bist feige! Du bist so feige!“, brüllt der leibliche Vater in Richtung Stiefvater. „Ich sitze hier, schaue mir in die Augen!“, attackiert Oliver E., der als Nebenkläger in dem Prozess auftritt, weiter.

Leonie und Noah Joel über Monate gequält

Nein, in die Augen kann der vermeintliche Mörder dem Vater des Opfers nicht schauen. Aber den Stinkefinger kann David H. zeigen – ein erster Anhaltspunkt für die sozialen Verhältnisse, in die das kleine Mädchen am Silvestertag des Jahres 2012 hineingeboren worden war.

+++ Alle Nordkurier-Artikel zum Todesfall Leonie finden Sie hier +++

Einen zweiten Anhaltspunkt gibt Staatsanwalt Bernd Bethke. Über Monate habe David H. seine Stieftochter und auch dessen kleinen Bruder Noah Joel misshandelt. Bethkes Liste der Verletzungen, die das kleine Mädchen im Zeitraum zwischen Spätherbst 2018 und Jahresbeginn 2019 laut Anklageschrift erlitten habe, lässt die Zuhörer im Gerichtsaal erstarren. Ellbogen gebrochen, Rippen gebrochen, Daumen gebrochen, Ablösung der Mundschleimhaut, Ablösung der Gehirnhaut, Gehirnblutungen. Es ist totenstill im Saal. Ein Mix aus Fassungslosigkeit, Erschütterung und Schockzustand arbeitet sich durch die Seelen aller Anwesenden. Leonies leiblicher Vater atmet schwer, der unter Mordverdacht stehende David H. blickt krampfhaft nach unten, zittert an Oberkörper und Händen, wischt sich mit den Fingern über die rot unterlaufenden Augen.

Doch damit nicht genug. Die Anklageschrift ist gnaden- und schonungslos: Der Stiefvater soll das kleine Mädchen in den Bauch getreten haben. Der Stiefvater soll Leonie mit ihrem Kopf gegen Wände geschlagen haben. Der Stiefvater soll die Sechsjährige gegen Tische geschubst haben. Der Stiefvater soll das Mordopfer geschüttelt haben. Bis Körper und Geist von Leonie trotz allen Lebenswillens eines Kindes nicht mehr konnten – und aufgaben. Bis der mutmaßliche Mörder am Abend des 12. Januar alles Leben aus ihrem zarten Organismus geprügelt hatte. „Gefühllose Gesinnung“, kommentiert der Staatsanwalt in Richtung Stiefvater.

Und die leibliche Mutter? Hat sie mit ihrer Mutterliebe ihr wehrloses Kind nicht schützen können? Nicht schützen wollen? Laut Anklageschrift habe David H. die Mutter zur Seite gedrängt – ihr Handy versteckt, damit sie keine Rettungskräfte alarmieren konnte. All das hat David H. in den vergangenen Monaten in seinen Vernehmungen bestritten. Er habe nach eigener Aussage die Rettungsleitstelle angerufen, als Leonie an ihrem Todesabend noch gelebt habe. „Sie atmet noch“, hat er der Leitstelle in seinem Notruf versichert – und in der Vernehmung bestätigt.

Drogen und Blutflecken in Torgelower Wohnung gefunden

Doch die Wahrnehmung des Stiefvaters entspricht nicht der Wahrheit. Das Gericht unter Vorsitz von Jochen Unterlöhner spielt das Telefonat, das von der Rettungsleitstelle – wie üblich – aufgezeichnet worden ist, ab. Zu hören ist, dass David H. davon spricht, dass Leonie bewusstlos sei. Im Hintergrund sind Kinderschreie zu hören. Ob sie von Leonie sind? Oder von Noah Joel, ihrem dreijährigen Bruder? Oder von Jonathan, dem leiblichen Sohn von David H., den dieser in die Beziehung mit Leonies Mutter gebracht hat?

Überlagert wird die Beantwortung dieser Fragen von der grausamen Vorstellung, dass Leonie zum Zeitpunkt des Anrufs bereits tot gewesen sein könnte. Aktueller Ermittlungsstand der Staatsanwaltschaft: Beim Eintreffen des Notarztes – wenige Minuten nach dessen Alarmierung – war das Mädchen tot. Vor dem Hintergrund der dramatischen Geschehnisse in der Torgelower Wohnung der Patchwork-Familie werden am Mittowch mit Spannung die Aussagen von Notärzten und Rettungssanitätern erwartet, die an jenem Abend im Einsatz waren. Ebenfalls im Zeugenstand: Eine Gerichtsmedizinerin, die noch am späten Abend des Todestages den Leichnam Leonies in Augenschein nahm.

Eine von offenbar mehreren Untersuchungen, Obduktionen und Gutachten, die nach dem Mord von Polizei, Rechtsmedizin und Staatsanwaltschaft durchgeführt worden sind – und die den Alltag der Familie nachgezeichnet haben. Zu diesem Alltag haben nach Aussagen aus Ermittlerkreisen auch Drogen gehört. Beispielsweise wurden in der Küche der Wohnung in einem Kinder-Überraschungsei Betäubungsmittel gefunden. Blutflecken an den Wänden und in der Kinderkleidung Leonies wurden ebenfalls sicher gestellt.

Sehr belastendes Verfahren

Als wäre das Umfeld des kleinen Mädchens nicht schon stressbelastet genug, kamen auch noch Beziehungsprobleme von Stiefvater David H. und Mutter Janine Z. hinzu. Vier Tage vor dem Tod des kleinen Mädchens soll es unter den Erwachsenen zu einem heftigen Streit gekommen sein. Der Grund: Leonies Mutter soll ein Verhältnis mit dem besten Freund von David H. gehabt haben. Die Stimmung sei so explosiv gewesen, dass David H. schon nicht mehr im Schlafzimmer, sondern auf der Couch im Wohnzimmer genächtigt haben soll.

13 Verhandlungstage mit 40 Zeugen hat das Landgericht Neubrandenburg terminiert, um laut Richter Unterlöhner „Licht in das Dunkel zu bringen“. Dazu würde man sich viel Zeit lassen. Eines aber machte der mit 30 Berufsjahren ausgestattete Richter schon am ersten Tag deutlich: „Es ist ein sehr belastendes Verfahren, in dem die Emotionen schon mal hoch kochen können. Doch wir müssen unsere durchaus verständlichen persönlichen Befindlichkeiten hier im Gerichtssaal messerscharf von unserem juristischen Sachverstand trennen.“

Eine Mammutaufgabe und vielleicht die größte Herausforderung in diesem barbarischen Mordfall.