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Fahrlässige Tötung

Drei Jahre nach Leonies Tod – Mutter wieder vor Gericht

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Der Fall der toten Leonie aus Torgelow wird vom Landgericht erneut aufgerollt. Muss Leonies Mutter hinter Gitter oder ist eine Bewährungsstrafe ausreichend?
Veröffentlicht:29.07.2022, 05:30

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Das Urteil, gesprochen wenige Tage vor Weihnachten im Dezember 2021, überraschte die meisten Prozessbeobachter. In der Verhandlung gegen die Mutter der gewaltsam zu Tode gekommenen sechsjährigen Leonie aus Torgelow wegen „fahrlässiger Tötung durch Unterlassen“ verhängte die Richterin Tanja Krüske eine zweijährige Freiheitsstrafe über die 27-Jährige. Die Strafe – und das kam unerwartet – sollte nach dem Willen der Richterin und ihrer beiden Schöffen unbedingt verbüßt und nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.

Stiefvater von Leonie wegen Mordes verurteilt

Selbst die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Plädoyers „nur“ eine Bewährungsstrafe verlangt. „Hier ist ein Kind gestorben durch bloße Untätigkeit“, wandte Richterin Tanja Krüske sich damals direkt an die Angeklagte, „An dieser Schuld müssen Sie bis an ihr Lebensende tragen.“ Beinahe versagte der Richterin zum Ende ihrer Urteilsbegründung die Stimme. Die Verteidigerin der Angeklagte Sabine Butzke hatte auf Freispruch plädiert und deshalb auch schon einen Tag nach der Verkündung die formale Berufung gegen das Urteil eingelegt.

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Schon Monate früher war Leonies Stiefvater wegen Mordes an dem kleinen Mädchen zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als Leonies Mutter an jenem schicksalhaften Nachmittag des 12. Januar 2019 nach einem Einkauf wieder zu Hause ankam, lag ihre sechsjährige Tochter mit einem Kühlakku in den Händen auf ihrem Bett und war, so wurde es im Prozess geschildert, gerade noch ansprechbar. Sie sei die Treppe heruntergefallen, wimmerte das Kind – wie es ihr wohl vom Stiefvater eingebläut worden war.

In Wirklichkeit war das Mädchen kurze Zeit vorher brutal von ihm misshandelt worden, wie schon in den Tagen und Wochen zuvor. Aber selbst, als sich der Zustand des Kindes weiter verschlimmerte und obwohl die Rettungswache in Torgelow nur wenige Hundert Meter weit entfernt war, soll die Mutter außer halbherzigen Versuchen nichts unternommen haben, um Hilfe herbeizurufen. Erst als Leonie schließlich ins Koma fiel, telefonierten die Erwachsenen. Da war es schon zu spät. Leonie verstarb noch vor dem Eintreffen der Rettungssanitäter.

Aussage der Mutter war entscheidend

In der ersten Verhandlung gegen Leonies Mutter im Dezember 2021 hätte das Gericht aber durchaus auch zu einem anderen Beschluss kommen können, schrieb der Nordkurier einen Tag nach dem Urteilsspruch. Denn ohne jeden Zweifel wären ohne die Aussagen der 27-Jährigen beide Prozesse – der gegen den Stiefvater und der gegen sie selbst – ungleich schwerer in Gang gekommen. Als Hauptzeugin hatte die Mutter der getöteten Leonie im Prozess gegen den Ex-Lebensgefährten ausgesagt, obwohl sie das jederzeit hätte verweigern können, weil sie sich dabei permanent selbst belastete. Und auch im Prozess gegen sie hätte sie den Mund halten und nur schweigen können.

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Richterin Krüske nannte den Tod des kleinen Mädchens am 12. Januar 2019 den „tragischen Höhepunkt einer sich abzeichnenden Entwicklung“. Nach dem Umzug der Familie von Wolgast nach Torgelow mit den drei Kindern – Leonie und ihr kleiner Bruder aus der vorherigen Beziehung sowie ein gemeinsames Baby mit dem nun als Mörder verurteilten Ex-Freund – hatte der es geschafft, die heute 27-Jährige zunehmend und fast vollständig von ihrem gewohnten sozialen Umfeld zu isolieren. Das hat sie geschehen lassen, aber der psychische und der physische Druck ihres sogenannten Partners muss unbeschreiblich groß gewesen sein. Einige Tage vor dem 12. Januar, nachdem Leonie erneut brutal verprügelt wurde, soll die junge Frau auf gepackten Koffern gesessen und den Notruf gewählt haben, um dann doch wieder aufzulegen und aufzugeben.

Hätte sie sich anders entschieden oder anders entscheiden können – die Tat wäre so nie geschehen und Leonie würde wohl noch leben. Der Tod des kleinen Mädchens begleitet dessen Mutter bis an ihr Lebensende, damit muss die jeden Tag leben und leben lernen.

Kindeswohlgefährdung: Anstieg von Verdachtsmeldungen in Vorpommern

Gut zwei Jahre danach zeigt die Statistik, dass sich seitdem auch die Sensibilität für Anzeichen von Kindeswohlgefährdungen im Landkreis Vorpommern-Greifswald erhöht hat. Im Jahr 2018 hatte es nach Angaben von Landrat Michael Sack (CDU) noch 743 entsprechende Verdachtsmeldungen gegeben. Ein Jahr später waren es schon 1103. Und im ersten Corona-Jahr 2020 lieferten alarmierte Zeugen an das Jugendamt 977 Hinweise, die 1299 Kinder betrafen.

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Nach Leonies Tod wurden auch vorsichtige Konsequenzen in der Verwaltung gezogen und der Vertrag zum Bereitschaftsdienst bei der Jugendnotfallhilfe mit der Arbeiterwohlfahrt Uecker-Randow gekündigt. Bereits Monate vor dem Tod Leonies war das Jugendamt des Landkreises Vorpommern-Greifswald auf fragliche Zustände in der Familie hingewiesen worden. Doch eine Kindeswohlgefährdung schloss das Jugendamt aus. Später hieß es aus dem Landratsamt, die interne Prüfung sei abgeschlossen und es seien keine Verfehlungen im Jugendamt nachweisbar.

Die Berufungsverhandlung vor dem Neubrandenburger Landgericht beginnt am 3. August um 13 Uhr.