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Frühchenstation

Ein Behandlungsverbot für die Allerkleinsten

Neubrandenbug / Lesedauer: 7 min

Das Verbot, extreme Frühchen in Neubrandenburg zu behandeln, hat für viel Empörung gesorgt. Ob es um medizinische Qualität oder Einsparungen geht, liegt im Auge des Betrachters.
Veröffentlicht:25.09.2022, 06:19

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Auch an diesem Mittwochabend auf der Burg Klempenow kam Dr. Sven Armbrust nicht an dem Thema vorbei. Vor Rettungskräften aus den Landkreisen Vorpommern-Greifswald und der Mecklenburgischen Seenplatte sprach der Chef der Neubrandenburger Kinderklinik über die Herausforderungen bei präklinischen Geburten und die Gefahren für Neugeborene beim Transport in Rettungsfahrzeugen. Dann gelangte er abermals zu einer Karte.

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Im Osten des Landes gehen die Lichter aus

Darauf zu sehen: Gerade mal vier Punkte in ganz Mecklenburg-Vorpommern. Standorte, an denen Frühchen mit einem Gewicht von unter 1250 Gramm derzeit noch behandelt werden dürfen. Rostock, Schwerin, Greifswald und Neubrandenburg. „Und so sieht es aus, wenn die gesetzlichen Vorgaben in die Tat umgesetzt werden“, sagt Armbrust und zeigt die neue Karte. Greifswald und Neubrandenburg sind verschwunden, der gesamte östliche Teil des Landes steht ohne Versorgung in diesem speziellen Fall da. Kopfschütteln bei den Gästen, Gastgeber Dr. Thomas Hanff aus Trollenhagen bei Neubrandenburg wird deutlich. „Das darf nicht passieren!“

Schon wenige Stunden später ist es – zumindest teilweise – passiert. Die Landesverbände der Krankenkassen und der Ersatzkassen haben dem Klinikum in Neubrandenburg ab 2023 für „Extrem-Frühchen“ ein Behandlungsverbot erteilt. Das Klinikum in Greifswald hingegen darf diese Leistung vorerst weiter anbieten. Denn hier gab es genug Behandlungen, 2021 wurden 20 Kinder im Perinatalzentrum Level 1 auf die Welt gebracht. Damit erreichen die Greifswalder zumindest für die Übergangszeit bis 2023 die nötige Mindestmenge von 20 Frühchen im Jahr. Rein rechnerisch können sie künftig womöglich auf die Fälle aus Neubrandenburg hoffen, um die Zahlen weiter zu steigern.

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Gute Behandlung, aber zu wenig Fälle im ländlichen Raum

Zwar hält das Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum in Neubrandenburg alles in allem mehr Betten vor als die Uni-Medizin in Greifswald, doch in diesem speziellen Gebiet sehen die Zahlen hier anders aus: Zuletzt wurden nur noch sieben solcher Frühchen innerhalb eines Jahres behandelt. Die Krankenkassen um die AOK Nordost, größte Krankenkasse des Landes, berufen sich auf Studien zur Behandlungsqualität, die bei einer größeren Routine des Personals gesteigert wird. Frühchen haben an Standorten, die die Mindestmengen erfüllen, die höheren Überlebenschancen, teilt die AOK Nordost mit. So sagt es die Statistik, ein kausaler Zusammenhang wird etwa in Neubrandenburg allerdings bestritten.

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Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), in dem Kassen und Krankenhausgesellschaften gleichermaßen sitzen, hatte die Mindestmengen bei den Extrem-Frühchen hochgesetzt. Früh war klar, dass Neubrandenburg diese Zahl nicht erreichen würde, entsprechend erwartbar ist nun die Entscheidung der Kassen. „Der Beschluss der Landesverbände folgt einer gesetzlichen Vorgabe. Die Landesverbände der Krankenkassen und Ersatzkassen sind rechtlich verpflichtet, so zu entscheiden“, betont die AOK Nordost.

Etwa 90 000 Euro pro Fall

Kinderklinik-Chef Sven Armbrust wird hingegen nicht müde zu erörtern, dass die Behandlungsqualität von Extrem-Frühchen in der Stadt sogar über dem Bundesdurchschnitt liegt und sehr viel Geld in die Versorgung investiert wurde. Von den kolportierten 90 000 Euro pro Extrem-Frühchen-Behandlung, die die Klinik erhält, bleibe da kaum etwas übrig. „Aber wir verstehen uns hier als Maximalversorger, das ist uns eine Herzensangelegenheit“, bekräftigt er auf Nordkurier-Anfrage.

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Die bloße Fallzahl würde bei der Bewertung nicht reichen. Zumal die sieben Fälle aus dem vergangenen Jahr womöglich durch die Corona-Pandemie verfälscht worden seien. Denn zuvor gab es in Neubrandenburg durchschnittlich doppelt so viele Behandlungen. Die Mindestmenge wäre damit aber noch immer nicht erreicht.

Zugleich scheinen vom G-BA bereitgestellte Zahlen den Kassen auch im Falle von Neubrandenburg recht zu geben. Jedes sechste hier behandelte Extrem-Frühchen hat zwischen 2016 und 2020 nicht überlebt. „Alle Todesfälle werden genau analysiert, immer wurde ein sogenannter schicksalhafter Verlauf festgestellt“, sagte hingegen Sven Armbrust. Noch nie wurden diese Zahlen bislang als „strukturell oder qualitativ auffällig“ bewertet.

Keine Daten zur Gefährlichkeit der Krankentransporte

Er sieht beim Transport das weit höhere Risiko. Schon jetzt werden selbst aus der Uckermark Babys nach Neubrandenburg gebracht. Fällt der Standort weg, würden die Wege noch weiter. Im Land würde dann nur noch ein Perinatalzentrum Level 1 auf knapp 7800 Quadratkilometern kommen, wie Neubrandenburgs Oberbürgermeister Silvio Witt (parteilos) am Nachmittag den Stadtvertretern vorrechnete. Ein absoluter Minuswert bundesweit.

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Eine Schwächung des ländlichen Raumes sieht die AOK Nordost wegen der überschaubaren Zahl von Hochrisikofällen allerdings nicht. „Die Klinik Neubrandenburg darf 99 Prozent der Frauen, die diese Klinik bislang für ihre Geburt ausgewählt haben, weiterhin betreuen“, teilt sie dem Nordkurier mit. Geht es nach den Krankenkassen, könnten Notfälle auch weiter in Neubrandenburg behandelt werden, einzig planbare Behandlungen müssten woanders stattfinden. Laut Kinderklinik-Chef Sven Armbrust seien aber bereits 70 Prozent der Behandlungen Notfälle. „Aber das glauben uns die Kassen ja nicht“, sagt er.

Keine Daten zu den künftigen Risiken

Stattdessen räumt die AOK Nordost ein, dass es zum Transportrisiko tatsächlich noch keine Daten gibt. Die entscheidende Frage: Ist das Risiko des Transportes größer als die Behandlung in einer Klinik mit nur geringen Fallzahlen. „Die derzeitigen Bemühungen zur statistisch sauberen Darstellung dieser Problematik sind noch nicht publiziert“, teilt die AOK Nordost mit. An der Entscheidung zu Neubrandenburg ändere das nichts.

Die wohl letzte Chance für die Extrem-Frühchen in Neubrandenburg ist nun eine bereits beantragte Ausnahmeregelung. Klinik-Mitarbeiter hatten dafür bereits Tausende Unterschriften gesammelt. Das Gesundheitsministerium in Schwerin strebt diese Ausnahmegenehmigung, nach eigenen Angaben, auch an. Allerdings müssen die Krankenkassen hier zustimmen. Man werde „das Gespräch mit dem Landesverband der Krankenkassen suchen, um das gesetzlich erforderliche Einvernehmen über eine Ausnahmegenehmigung zu erreichen“, verspricht das Gesundheitsministerium.

Krankenassen wollen keine Ausnahme

Doch die AOK Nordost hält davon wenig. „Die erhöhte Mindestmenge in der Versorgung besonders kleiner Frühchen erhöht laut eindeutiger Studienlage die Überlebenschancen für die Allerkleinsten“, heißt es von der AOK Nordost. Daher spreche man sich deutlich gegen Ausnahmeregelungen des Landes zur Aufhebung der Mindestmenge für einzelne Krankenhäuser aus, die Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm behandeln.

Aus dem Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum selbst hieß es als Reaktion, man wolle das Behandlungsverbot ganz genau prüfen und weiter für den Erhalt kämpfen. Einen drastischen Vorschlag machte der Landtagsabgeordnete Torsten Koplin (Linke) im Gespräch mit unserer Zeitung.

Die Entscheidung der Kassen treffe bei ihm auf „völliges Unverständnis“, sagte er. Denn es sei viel mehr als nur der Wegfall einer einzigen Leistung. „Der Schaden wird sicherlich noch größer, wenn es in der Folge Einschnitte beim Personal und bei der Ausbildung gibt“, so Koplin weiter.

Die Regierungskoalition in Schwerin stehe laut ihm deutlich für den Erhalt. „Gegebenenfalls müssen wir die Sicherstellung aus eigener Kraft gewährleisten“, schlug er vor. Über einen sogenannten Sicherstellungszuschlag. Dann würde das Klinikum diese Behandlungen nicht bei den Krankenkassen abrechnen, sondern würde direkt mit Steuergeldern finanziert. Ein teures Unterfangen, schätzt Koplin schon jetzt. „Aber das muss es uns wert sein.“