StartseiteRegionalNeubrandenburg„Leonie starb einsam und allein in einem kalten Zimmer“

Urteil im Mordprozess

„Leonie starb einsam und allein in einem kalten Zimmer“

Neubrandenburg / Lesedauer: 4 min

In der Urteilsbegründung im Mordprozess um die kleine Leonie aus Torgelow zeichnete das Gericht den Todestag des Mädchens schmerzhaft genau nach.
Veröffentlicht:10.01.2020, 07:00

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Ein Gerichtssaal wie eine Stierkampfarena. Als der Vorsitzende Richter Jochen Unterlöhner gestern Vormittag um 10.03 Uhr die lebenslange Haftstrafe für den Kindermörder David H. verkündete, brandete frenetischer Beifall im voll besetzten Publikumsbereich auf. Lautstarker Jubel beim Urteilsspruch – Unterlöhner forderte Ruhe, drohte mit dem Verweis aus dem Gerichtssaal.

Immer wieder Schluchzen im Gerichtssaal

Wenige Augenblicke später erstarrten Beifall und Jubel. Schluchzen war zu hören, Tränen flossen – Jochen Unterlöhners Worte ließen auch den Hartgesottensten das Blut in den Ader gefrieren. „Leonie starb nicht an einer Krankheit. Leonie starb nicht an einem Unfall. Leonie starb durch gezielte, massive, stumpfe, mehrfache und mehrzeitige Gewalt. Kopf, Schädel, Gesicht, Oberkörper, Arme, Hüfte, Bauch, Beine – kein Körperteil war ohne Verletzungen“, sprach der Richter mit nachdrücklicher Stimme. Und dann donnerte Unterlöhner einen Satz in den Gerichtssaal, der die ganze Brutalität der Taten von David H. in neun Worten zusammenfasste: „Leonie starb einsam und allein in einem kalten Zimmer.“

Niemand stand Leonie in ihrer Todesstunde bei

Leise sprechend fuhr der Richter fort: „Das letzte was die kleine Leonie hörte, waren Stimmen aus dem Fernseher im Kinderzimmer. Es lief ein Zeichentrickfilm.“ Und der Stiefvater? Und die Mutter? Was machten sie während des grausamen und schmerzhaften Todeskampf des kleinen Mädchens? Unterlöhner kannte keine Gnade, präsentierte die aus Sicht der Schwurgerichtskammer schonungslose Wahrheit: „David H. rauchte in der Küche eine Zigarette und Janine Z. beschäftigte sich mit ihrem Sohn Jonathan – oder spielte mit ihrem Handy.“

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Der leibliche Vater hielt sich die Ohren zu

Diese Situation zeige das ganze Elend dieses Kindes. Allein gelassen mit seinem Schmerz, mit seinen Ängsten, mit seinem Todeskampf. Unterlöhner wörtlich: „Und das sieben Minuten Fußweg von einer Rettungswache entfernt.“

Leonies leiblicher Vater Oliver E., der im Prozess vor dem Landgericht Neubrandenburg als Nebenkläger auftrat, hielt sich bei den Worten des Richters die Ohren zu, bewahrte mit hochrotem Kopf und Tränen unterlaufenden Augen nur mit großer Mühe die Fassung. Dagegen war beim so eben zu lebenslanger Haft verurteilten David H. keine Regung zu erkennen. Während der 90-minütigen Urteilsbegründung schaute der 28-Jährige äußerlich unbewegt zu Boden.

Mehr: David H. hat keine letzten Worte für Leonie.

Gravierende gefühllose Gesinnung

Trotz dieser vermeintlichen Regungslosigkeit des Mörders – eines machte der mit einer großen Portion an Erfahrung ausgestattete Richter unmissverständlich deutlich: „Es war für alle am Prozess Beteiligten juristisch, organisatorisch und emotional eine große Herausforderung, dieses Verfahren durchzuführen.“ Die Beweisführung sei sehr schwierig gewesen. Trotz der Beteuerungen des Stiefvaters, die Kinder nie geschlagen zu haben, würden wir als Richter nicht an der schwerwiegenden, gravierenden und gefühllosen Gesinnung von David H. und seinem schuldhaften Verhalten zweifeln.

„Dieses Verhalten schränkt die strafrechtliche Verantwortung der Mutter nicht ein“, stellte Unterlöhner klar. Auch die Mutter müsse sich einem Strafverfahren stellen. Aktuell hat die Staatsanwaltschaft Neubrandenburg die Ermittlungen gegen Janine Z. wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung abgeschlossen. Aus Unterlöhners Worten lässt sich schließen, dass auch gegen Leonies Mutter Anklage erhoben werde.

Mit dem Bügel vom Kinderwagen verprügelt

Die Vernehmung von 40 Zeugen und fünf Gutachtern hätte die Widersprüche in den Aussagen des Stiefvaters entlarvt – und seine Glaubwürdigkeit komplett erschüttert. Allein die verschiedenen Versionen, die David H. vom vermeintlichen Treppensturz präsentiert habe – an dem Leonie nach Angaben des Stiefvaters gestorben sei –, würden nach Auffassung des Gerichts dafür sprechen, dass es diesen Treppensturz nie gegeben habe.

Als Janine Z. und ihre Tochter Leonie ihm zudem in den ersten Tagen des Jahres 2019 eröffnet hätten, ihn zu verlassen, habe dies bei David H. eine weitere, am Ende tödliche Welle der Gewalt ausgelöst.

„Das ist ein klares Mordmerkmal”

Bereits in den Tagen vor ihrem Tod habe David H. das Mädchen mit Tritten und Schlägen misshandelt und schwer verletzt. Am 12. Januar, dem Todestag Leonies, habe der Stiefvater das Kind nach Aussage des Richters mit einem Sicherungsbügel des Kinderwagens lebensbedrohlich verletzt – und anschließend über Stunden verhindert, dass die leibliche Mutter Hilfe holen konnte. „Dabei hat er sogar Notrufe fingiert“, schilderte Unterlöhner die „kriminelle Dynamik“, mit der David H. versucht habe, seine Taten zu vertuschen. „Diese Verdeckungsabsicht ist ein klares Mordmerkmal“, so der Richter.

Das Ende eines denkwürdigen Prozesses

Das aggressive Dominanzverhalten, das David H. in der der Familie mit den Kindern Leonie, Noah-Joel sowie Jonathan und der Mutter ausgeübt habe, sei laut Gericht für das sechsjährige Mädchen in einem „unausweichlichen Martyrium“ geendet. Diesem Martyrium habe Leonie nur durch ihren Tod entkommen können, formulierte Unterlöhner mit bewegenden Worten – und schloss seine Urteilsbegründung mit einer persönliche Bemerkung: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Leonie jetzt an einem besseren Ort ist.“ Schweigen im Gerichtssaal. Ende eines denkwürdigen Prozesses.