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Mit einem Olympia-Traum auf der Flucht

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Plötzlich steht ein junger Iraker vor der Dojo-Tür des Judoclub Vier Tore Neubrandenburg – wie sich herausstellt, ein Top-Kampfsportler und sogar WM-Starter.
Veröffentlicht:30.03.2022, 07:28

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Manchmal huscht während des Tischgesprächs ein Lächeln über das Gesicht von Ahmed Allami. Etwa, wenn Trainerin Stefanie Blum ihm bedeutet, die Würstchen, die sie fürs Mittagessen gekauft habe, enthielten kein Schweine-, sondern Hühnerfleisch. Oder wenn Udo Blum, der Vereinschef vom Judoclub Vier Tore Neubrandenburg, offenbar über ihn redet und dabei kurz die Hand auf seine Schulter legt. Man kennt einander erst wenige Wochen, scheint aber schon vertraut.

Der junge Mann aus dem Irak muss zwischen all den Themen ein Break machen und einen aus Syrien stammenden Freund übersetzen lassen: „Ich kann es gar nicht fassen, wie sehr sich hier um mich gekümmert wird. Das ist wie meine Familie. Nein, das ist Familie.“ Der kleine Raum dient als Umkleide, Büro, Treff – alles in einem. Wenn sich der 25-jährige Allami umdreht, sieht er durch ein großes Fenster ins Dojo hinein, in die Judohalle. Ein Blick in seine Lieblingswelt.

Zweieinhalb Jahre auf Kampfsport verzichtet

Zweieinhalb Jahre hat der Iraker, der es als „Mattenfuchs“ im Heimatland und darüber hinaus zu Bekanntheit gebracht hat und 2018 sogar Starter bei der Weltmeisterschaft in Aserbaidschan war, auf den Kampfsport verzichten müssen. „Ich versteckte mich oder war auf der Flucht. Als Judokämpfer wäre ich aufgefallen. Ich musste ja jede Aufmerksamkeit vermeiden“, berichtet er.

„Ahmed ist vor anderthalb Monaten über einen Kumpel bei uns gelandet“, erzählt Udo Blum. Als Allami vor ihm gestanden habe, seien bei ihm die Lichter angegangen: „Bei Übertragungen von Judo-Highlights im Internet guckte ich mir damals internationale Kämpfe von Ahmed an. Und nun war er plötzlich bei uns.“ Keine Frage für Blum: „Was der in puncto Judo drauf hat, geht eindeutig über das Gewöhnliche hinaus.“ – Ein Top-Mann, trotz der langen Zwangspause. „Wir wollen ihn fördern, ihm auf die Beine helfen, benötigen dabei aber auch Unterstützung. Alles hängt vom Asylverfahren ab, doch in dieser Hinsicht regt sich aktuell leider gar nichts.“

Ahmed Allami stammt aus der irakischen Hauptstadt Bagdad. Als er neun war, checkte er sich im Judo – in Asien eine große Nummer – und verliebte sich umgehend in die Sportart. „Meine Mutter war erst nicht begeistert, dass ich mich nur noch damit beschäftigte“, denkt er zurück. Es erwies sich, dass der Junge eine besondere Begabung für den Kampfsport hatte. 2012 ließ er als Nachwuchs-Talent bei westasiatischen Meisterschaften im Libanon staunen, bald zählte er zum irakischen Auswahl-Kader. In den Ranglisten seines Landes mischte er jahrelang ganz oben mit. Nach besagter WM-Teilnahme 2018 in Baku hatte er ein großes Ziel: Ein Ticket zu den Olympischen Spielen. Allami wollte in Tokio dabei sein.

Zunächst in der Türkei untergetaucht

Hohe Ansprüche, wachsende Bekanntheit – das habe ihn, wie er sagt, allerdings ins Visier militärischer und paramilitärischer Gruppen gebracht, von denen es im Irak wimmele. „Dort ist es okay, arm zu sein. Berühmt zu sein, das ist nicht okay“, so Ahmed Allami. Er sei bedroht, sogar ins Gefängnis gesteckt worden. Für Geld, das die Eltern gezahlt hätten, sei er nach drei Monaten freigekommen, jedoch gezwungen gewesen, sich zu verbergen. Flieh!, hieß es.

Ende 2019 beherzigte er den Rat. Er tauchte in der Türkei unter, jobbte dort unter dem Radar. Judo versagte er sich. Dann, im vergangenen Herbst, nutzte er die Chance, vom Libanon „mit der großen Welle“ nach Weißrussland zu reisen. Bezahlte Schleuser brachten ihn am 25. Oktober nach Deutschland, zunächst war er in Schwerin, nun ist er in Neubrandenburg. „Ich weiß, dass Judo in Deutschland nicht so einen Stellenwert hat wie in Asien, aber hier ist es sicher“, sagt Ahmed Allami. Was ihn traurig mache: Weil er geflohen sei, halte man nun seinen älteren Bruder im Irak gefangen.

Wunsch: Start bei Kopenhagen Open

Wochentäglich zwei „Einheiten“ trainiert Allami im Dojo des JC Vier Tore. Mit Tommy Otting, Judoka und Trainer in dem familiären Verein, hat er glücklicherweise einen Partner, der ähnlich alt und schwer ist. „Das ist für beide ein Gewinn“, so Udo Blum. Der weiß: „Ahmed braucht Wettkämpfe, in denen er sich zeigen kann. Gut besetzte Turniere, Lehrgänge im Leistungsbereich. Den Leuten, die bei uns im Judo was zu sagen haben, muss klar werden, was für einer hier angekommen ist.“

Blum würde Allami gern demnächst bei einem Turnier in Dänemark präsentieren, den Kopenhagen Open am 16./17. April. „Nach derzeitigem Stand kann Ahmed da aber nicht starten, er darf sich nur in Deutschland bewegen. Die Ausländerbehörde hat seinen Reisepass eingezogen, das ist wohl so üblich. Wir bräuchten für die zwei Tage eine Ausnahmegenehmigung, haben allerdings noch nichts erreichen können“, erklärt der Vereinsvorsitzende, der auch schon den Deutschen Judo-Bund darüber informierte, dass neuerdings ein Kämpfer mit gutem Namen zu haben ist. „Auf eine Reaktion warte ich noch.“

Schultüte zur ersten Deutsch-Lektion

Geduld scheint gleichfalls in Sachen Asylantrag vonnöten zu sein. Udo Blum: „Wir fragen immer wieder nach, und uns wird regelmäßig mitgeteilt, dass man derzeit wegen der Ukraine-Flüchtlinge im Stress sei. Da werden jetzt offenbar die anderen Fälle erst mal nach hinten geschoben.“ Im Neubrandenburger Asylbewerberheim bewohnt Allami ein Zimmer mit zwei weiteren Männern. „Die rauchen“, zeigt er mit zwei Fingern vor dem Mund an.

„Da behördlich in diesem Fall bisher wenig gelaufen ist, haben wir nun selbst angefangen, Ahmet unsere Sprache beizubringen“, berichtet Stefanie Blum. Dazu seien Vokabel-Kärtchen Arabisch-Deutsch mit Schrift und Zeichnungen in Nutzung. „Am ersten Tag bekam Ahmet eine Schultüte.“ Der ist um eine Probe seines neu erworbenen Könnens nicht verlegen. „Ich heiße Ahmed.“

Ab und an wendet sich Ahmed Allami um, ein Blick in die Judohalle. „Der will auf die Matte“, grient Udo Blum. Denn: „An seinem Olympia-Traum hält er fest, nun sollen es die Spiele 2024 in Paris sein. Da möchte er starten, wenn es nicht anders geht, für das Flüchtlingsteam, viel lieber aber für Deutschland.“