Corona-Pandemie
Schwedens Sonderweg ist gescheitert
Stockholm / Lesedauer: 4 min

Carsten Korfmacher
Auf so mancher Corona-Demo in Deutschland reichte schon ein Wort, um die Masse in Aufruhr zu versetzen: „Schweden”. Der liberale Sonderweg, den das Drei-Kronen-Land zu Beginn der Corona-Pandemie einschlug, war für Kritiker der Corona-Maßnahmen Ausdruck von so Vielem. Von dem, was angeblich so alles falsch läuft im Staate Deutschland. Von der Möglichkeit, den verhassten Regeln, Maßnahmen und Anordnungen zu entgehen, die seit März das Leben in der Bundesrepublik bestimmen. Und im Stillen vielleicht auch von der Hoffnung, in der Krise mit einem blauen Auge davonzukommen. Dabei setzten die Kritiker immer voraus, dass der schwedische Sonderweg tatsächlich funktioniert. Doch in den vergangenen Wochen verfestigten sich die Anzeichen dafür, dass Schwedens liberaler Weg geradewegs in die Katastrophe führt.
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Während in fast allen westeuropäischen Ländern die Infektionszahlen kontinuierlich zurückgehen, steigt die Zahl in Schweden zunehmend stark an. Schweden hatte nach Angaben der WHO mit Stand Donnerstag in den vergangenen zwei Wochen mehr Neuansteckungen als alle anderen europäischen Länder mit Ausnahme Großbritanniens. Nicht nur das: In diesem Zeitraum lag die Zahl der schwedischen Neuansteckungen mit 14.734 Infektionen deutlich über der Gesamtzahl von rund 25 anderen europäischen Ländern, darunter Deutschland, Italien, Niederlande, Österreich, Schweiz, Irland, Tschechien und der nördlichen Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland.
Ähnlich schlecht fahren derzeit nur Weißrussland, deren Präsident Alexander Lukaschenko das Coronavirus kurzerhand zu einer Verschwörungstheorie erklärte, und die neuen Corona-Hotspots Russland und Türkei. Auch die Zahl der Toten ist in Schweden ungewöhnlich hoch. Bei – Stand Donnerstag – 54.562 Infizierten verzeichnet das Land 5041 Tote. Verglichen mit Deutschland hat Schweden mit seinen 10,3 Millionen Einwohnern auf die Bevölkerungszahl gerechnet fünfmal so viele Todesfälle.
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Rechte bezeichnen Schwedens Sonderweg als „Massaker”
Es ist also wenig überraschend, dass nun auch im Königreich erstmals Unmut laut wird. Besonders die oppositionellen Rechten sparen nicht mit Kritik an der Haltung der rot-grünen Minderheitsregierung. So bezeichneten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten den liberalen Sonderweg des Landes jüngst als „Massaker” an der Bevölkerung. Selbst Staatsepidemiologe Anders Tegnell übte zuletzt Selbstkritik: „Es wäre gut, wenn man genauer wüsste, was man noch hätte schließen sollen, um die Ausbreitung effektiver zu verhindern”, sagte Tegnell in einem Radiointerview.
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In Schweden war durchgängig alles offen: Grundschulen, Kitas, Bars, Restaurants, Geschäfte. Es gab ein Besuchsverbot in Altersheimen und eine Teilnehmergrenze für Großveranstaltungen, ansonsten verließ man sich auf die Vernunft der Bürger. Doch jetzt, da die Lage in einigen Regionen des Landes eskaliert, müssen härte Geschütze aufgefahren werden: Nachdem in einer Gemeinde im dünn besiedelten Lappland nördlich des Polarkreises die Zahl der Corona-Neuinfektionen außer Kontrolle geriet, schloss die Verwaltung in Abwesenheit von Regierungsmaßnahmen alle Freizeit- und Kulturanlagen. Der öffentliche Nahverkehr in der Stadt Gällivare wurde eingestellt, weitere Maßnahmen sollen getroffen werden.
Schweden gilt als Corona-Risikogebiet
Bei den europäischen Nachbarn hat man bereits auf die Probleme in Schweden reagiert: Die skandinavischen Nachbarn Dänemark, Norwegen und Finnland halten ihre Grenzen für Schweden geschlossen, die Bundesrepublik hat das Königreich als einziges EU-Land noch als Corona-Risikogebiet deklariert. Einreisende aus Schweden müssen 14 Tage in Quarantäne, darüber hinaus gilt eine Reisewarnung für das Drei-Kronen-Land.
Mittlerweile schwindet auch in der eigenen Bevölkerung die Unterstützung. „Das Vertrauen in die Regierung und die Gesundheitsbehörde ist eingebrochen”, vermeldete vergangene Woche der öffentlich-rechtliche Sender SVT. „Der Anteil derer mit großem oder relativ großem Vertrauen in die Corona-Maßnahmen ist um rund 20 Prozentpunkte gesunken.” Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven versprach, eine Kommission einzusetzen, die sich mit der schwedischen Corona-Strategie kritisch auseinandersetzen soll. Löfven verteidigt seinen Weg weiter, doch die Nerven scheinen schon jetzt blank zu liegen: Die Medizinprofessorin Harriet Wallberg sollte als neue Koordinatorin der Regierung mehr Testmöglichkeiten im Land schaffen. Sie schmiss den Job schon nach drei Wochen.
Wie es nun weitergehen soll, ist ungewiss. Ein Grund für den Unfrieden dürfte auch sein, dass sich die schwedischen Hoffnungen schlicht nicht erfüllten. Nicht nur hat man ein exponenzielles Wachstum der Neuansteckungen und eine hohe Zahl an Todesfällen nicht verhindern können. Auch ist Schweden weit von einer Herdenimmunität entfernt. Experten gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immun sein müssen, um die unkontrollierte Ausbreitung des Virus zu stoppen. Selbst in der Corona-Hochburg Stockholm sind nach Hochrechnungen der schwedischen Gesundheitsbehörden aber nur gut sieben Prozent der Einwohner Corona-positiv. Darüber hinaus leidet das Königreich wirtschaftlich mindestens genau so stark wie seine europäischen Nachbarn. Im Land wächst langsam aber sicher die Befürchtung, auf der falschen Fährte gewesen zu sein.