„Wie Tiere im Käfig”
So heftig ist die Corona-Quarantäne in Berlin Neukölln
Berlin / Lesedauer: 5 min

Carsten Korfmacher
„Warum fragt denn niemand, wie es uns geht, ob wir Wasser oder Essen brauchen?” Der Mann sitzt im T-Shirt auf dem Balkon, die Arme auf dem Geländer verschränkt. Es ist warm draußen, weit über 25 Grad, und die Sonne steht hoch über dem fünfstöckigen Wohnblock im Berliner Stadtteil Neukölln.
Der Mann spricht langsam und ruhig, doch in seiner Stimme schwingt Verbitterung mit. „Die kommen alle her und machen Fotos von uns als wären wir Tiere im Käfig.” Er schnalzt mit der Zunge und schüttelt dabei einmal den Kopf, ein Ausdruck von Unverständnis und Missbilligung.
So wie mehrere hundert Nachbarn befindet sich der Mann seit einigen Tagen in Corona-Quarantäne. Alleine hier in der Harzer Straße sind fünf Hauseingänge betroffen, in ganz Neukölln sind es 369 Haushalte an sieben verschiedenen Standorten. 70 Corona-Fälle hat es nach behördlichen Angaben in den sieben Wohnhäusern gegeben, hier in der Harzer Straße sind es den Anwohnern zufolge aber nur fünf.
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Vom „Slum” zum Vorzeigeprojekt
„Mietskaserne Harzer Straße”: In Neukölln weiß jeder, welches Gebäude damit gemeint ist. Der Vorbesitzer ließ den Block verkommen, Anwohner sprechen von einem „Slum”, der hier entstand. Damals, vor rund zehn Jahren, lebten in erster Linie Zuwanderer der Sinti und Roma in dem Haus, die Wohnungen wurden als Matratzenlagern für Tagelöhner aus Rumänien und Bulgarien genutzt. Kinder spielten in Müllbergen, die Treppenhäuser waren verdreckt, rund 2000 Ratten seien auf dem Gelände gezählt worden, berichtete Kardinal Rainer Maria Woelki im Jahr 2012 dem Kölner Domradio.
Woelki war damals Berliner Erzbischof. Er weihte das Gebäude ein, nachdem es von der zur katholischen Kirche gehörenden Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft gekauft und renoviert wurde. Die damaligen Bewohner durften weiter in dem Block wohnen bleiben, aus einem Slum wurde ein Vorzeigeprojekt. Heute wohnen immer noch viele Rumänen in dem Wohnhaus, aber auch andere Nationalitäten. Von einem Balkon weht eine große Deutschlandfahne.
Mit neun Personen in einer Wohnung
„Das Gesundheitsamt hat uns gesagt, dass wir 14 Tage nicht raus dürfen”, sagt der Mann auf dem Balkon. Er ist aufgetaut, nachdem er sich den Frust von der Seele gesprochen hat. „Ist ja nicht mehr lange”, sagt er, dann geht er rein. Sein Nachbar bekommt das Gespräch mit, winkt einmal kurz mit der linken Hand. Ein kleines Mädchen steht neben ihm, sie lugt über das Balkongeländer, kann gerade so nach unten gucken.
„Mein Papa spricht nicht so gut Deutsch.” Der Mann lächelt auf die Straße herunter. „Uns geht's gut”, sagt er. Zwei weitere kleine Kinder kommen auf den Balkon, wollen wissen, was sich da draußen wieder abspielt. Ein älterer Junge stößt dazu, er trägt ein weißes T-Shirt und ein bisschen Flausch im Gesicht. Der Bart ist wohl ebenso noch in der Entwicklungsphase wie das Konzept der städtischen Behörden, sich um die Bewohner des Hauses zu kümmern. „Wir sind mit neun Personen hier in der Wohnung, Wasser und Essen waren schon nach zwei Tagen alle”, sagt der Junge.
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Kinder dürfen vielleicht bald zum Spielen raus
Die Behörden würden sich um diese Belange nicht kümmern, Hilfe bekämen die Bewohner vor allem von der angrenzenden Schule. „Die bringen uns Essen und Trinken vorbei, oder Bekannte reichen uns Einkäufe über den Balkon an”, berichtet der Junge weiter. Einige Bewohner ließen sich ihre Einkäufe gegen einen Aufpreis vom Supermarkt in der Nähe bringen. Aber dafür müsste man eben genug Geld haben.
„Wir spielen hier, das ist schön”, ruft das kleine Mädchen. Ob denn wenigstens die Kinder raus dürfen, vielleicht in den Hinterhof, um ein bisschen rumzutoben. „Noch nicht, aber vielleicht in den nächsten Tagen mal für eine Stunde”, sagt der Junge mit dem Flauschbart. „Aber ist schon ok, uns geht es gut.”
Journalisten mit Eiern beworfen
Es ist ruhig um den gesamten Wohnblock im Harzer Kiez. Die meisten Balkons sind leer. Ein Fenster im Erdgeschoss steht offen, eine junge Frau sitzt auf der Fensterbank. Sie winkt gleich ab, will nichts sagen. Ein paar hundert Meter weiter stehen Polizisten. Allgemeine Verkehrskontrolle, mit dem Corona-Block hat das nichts zu tun.
Dabei hatten sich hier am Vortag noch wilde Szenen abgespielt. Fernsehteams belagerten das Haus, Anwohner bewarfen Reporter mit Eiern, Zivilpolizisten beobachteten die Vorgänge und empfahlen Journalisten, besser nicht vor Ort zu berichten. Die Stimmung war gereizt, die Anwohner mit der plötzlichen öffentlichen Aufmerksamkeit anscheinend überfordert. „Kann man doch verstehen, oder“, fragt der junge Mann, der gegenüber im Kiosk arbeitet. „Die armen Menschen werden da für zwei Wochen eingesperrt.“
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Es geht um mehr als nur die Gesundheit
Über eines sprechen weder die Behörden noch die Anwohner gerne. Über Integration. Und über Misstrauen. Die Bewohner des Wohnblocks leben seit vielen Jahren fast ausschließlich unter sich, sie erfahren noch heute Abwertungen und Rassismus. Sie haben gelernt, in erster Linie einander zu vertrauen, weswegen die Behörden einen schwierigen Stand haben. Auf Amtsseite wiederum überwiegt die Angst, die Integrationserfolge der vergangenen Jahre wieder zunichte zu machen.
Die vom Ausbruch betroffenen Gruppen seien sehr arme und zum großen Teil bildungsferne Menschen, die „schwer zu schützen” seien, sagte der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid am Mittwoch im Berliner Inforadio. Manchen könne man die grundlegenden Dinge im Infektionsgeschehen nicht klar machen. „Das ist die reale Arbeit in den Gesundheitsämtern, damit kämpfen wir und dem stehen wir auch ein bisschen ratlos gegenüber.” Es scheint also, als stünde in Neukölln mehr auf dem Spiel als die Gesundheit der Anwohner.