Wer darf überleben und wer muss sterben?
Neubrandenburg / Lesedauer: 4 min

Es ist zu befürchten, dass den Krankenhäusern und Kliniken in Deutschland Horrorszenarien bevorstehen: Mit der steigenden Zahl an Corona-Infektionen wird immer wahrscheinlicher, dass die Zahl der Intensivbetten nicht für den erwarteten Ansturm schwerstkranker Patienten ausreicht. In einem solchen Fall müssen leitende Ärzte vor Ort die Frage klären, wer intensivmedizinische Behandlung bekommt und wer nicht. Kurz gesagt: Wer darf überleben und wer muss sterben, wenn die Kapazitäten nicht mehr ausreichen?
In dieser Woche haben sieben führende medizinische Fachgesellschaften einen Kriterienkatalog veröffentlicht, anhand dessen Ärzte entscheiden können, welche Patienten weiter behandelt werden, wenn die Intensivkapazitäten während der Corona-Pandemie nicht mehr ausreichen. Das Wichtigste bei dieser sogenannten Triage: Die Regeln müssen überall gleich sein und dürfen nicht auf Alter, Geschlecht, Religion oder soziale Faktoren basieren. Menschenleben dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gegeneinander abgewogen werden.
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Intensiv-Behandlung wird ohne Aussicht auf Erfolg abgelehnt
Die Gesellschaften empfehlen daher eine Vorgehensweise, die sich am „Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht” orientiert. Diese erfolgt in vier Schritten. In Schritt 1 muss geklärt werden, ob eine Intensivbehandlung überhaupt notwendig ist. Wenn der Patient auch allgemeinmedizinisch betreut werden kann, darf keine Verlegung auf die Intensivstation erfolgen.
Schritt 2 beurteilt die Erfolgsaussichten der Intensivbehandlung: Sollte bereits der Sterbeprozess begonnen haben, eine Therapie als aussichtslos eingeschätzt werden oder das Überleben des Patienten an den dauerhaften Aufenthalt auf der Intensivstation gebunden sein, dann würde die intensivmedizinische Aufnahme abgelehnt. In Schritt 3 wird geprüft, ob der Patient zum Beispiel in Form einer Patientenverfügung eine Intensivtherapie von vornherein ablehnt. Auch dann wird die intensivmedizinische Behandlung verweigert.
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Im schlimmsten Fall direkt auf die Palliativstation
Sollte es nach all diesen Prüfungen immer noch zu wenig Intensivbetten für die schwerkranken Patienten geben, fallen schwere Entscheidungen an. Im Sechs-Augen-Prinzip sollen erfahrene Ärzte darüber befinden, wer auf die Intensivstation aufgenommen wird und wer nicht – wer also sterben muss. Dies stelle „enorme emotionale und moralische Herausforderungen für das Behandlungsteam” dar, sei im Falle von Ressourcenknappheit aber unausweichlich. Vorrangig sollen jene Patienten behandelt werden, die dadurch eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit und eine bessere Gesamtprognose haben.
Das bedeutet: Patienten, die an schweren Vorerkrankungen leiden oder in ihrem Gesamtzustand zu gebrechlich sind, werden im besten Fall noch allgemeinmedizinisch betreut und im schlimmsten Fall zum Sterben auf die Palliativstation verlegt.
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Mehrere Vorerkrankungen sind problematisch
Zu den Indikatoren für eine schlechte Erfolgsaussicht zählen unter anderem: Gebrechlichkeit; ein schlechter allgemeiner Gesundheitsstatus; akutes Organversagen; eine schwere und irreversible Immunschwäche; Herzinsuffizienz, Lungenerkrankungen oder Leberversagen im fortgeschrittenen Stadium; und Krebs, COPD oder neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen im weit fortgeschrittenen Stadium.
Sollten verschiedene Vorerkrankungen zusammenkommen und sich dadurch die Erfolgsprognose deutlich verschlechtern, wird eine intensivmedizinische Behandlung zunehmend unwahrscheinlich. Sobald ein Patient auf der Intensivstation angekommen ist, sollte sein Status nach diesen Kriterien immer wieder aufs Neue geprüft werden.
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Maßnahmen „wie im Krieg”
„Die deutschen Empfehlungen sind nicht nur gut, sondern überfällig”, sagte Ulrich Körtner, der im Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien sitzt. „Ohne entsprechende Vorbereitung für den Ernstfall sind auch in Deutschland oder Österreich Zustände wie in Italien oder Spanien nicht auszuschließen.” Körtner gibt allerdings zu bedenken, dass Intensivbetten nicht nur für Corona-Patienten bereitgehalten werden können, da während der Pandemie auch andere Patienten intensivpflichtig würden, zum Beispiel durch schwere Unfälle, Herzinfarkte oder Schlaganfälle.
Zudem appelliert Körtner an die Bürger, die Lage nicht zu unterschätzen. „Die Bevölkerung sollte wissen: Die Lage ist tatsächlich so ernst, dass man schon jetzt einen Plan B braucht, nämlich Maßnahmen, wie man sie nur aus der Katstrophen- und Kriegsmedizin kennt.” Die vorgelegten Maßnahmen seien „wie im Krieg, ob man das Wort nun für politisch korrekt hält oder nicht”.
Ältere haben oft die schlechteren Karten
Die Empfehlungen der Fachgesellschaften „orientieren sich an den gut etablierten, aber selten eingesetzten, Maßstäben der Katastrophenmedizin”, sagte auch Nils Hoppe, Professor für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften an der Universität Hannover.
Diese Merkmale sollten zwar ausdrücklich nicht das Alter des Patienten beinhalten. „Allerdings gibt es im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung außerordentlich oft eine Korrelation von Alter und anderen zugrundeliegenden Erkrankungen, die Erfolgsaussichten einer Behandlung beeinträchtigen.”