Corona-Pandemie

Werden die Intensivbetten in Deutschland wirklich knapp?

Neubrandenburg / Lesedauer: 4 min

Die Corona-Maßnahmen wurden mit der Sorge begründet, dass Deutschlands Krankenhäuser überrannt werden könnten. Kritiker bezweifeln das. Wer hat Recht?
Veröffentlicht:11.11.2020, 05:58

Von:
  • Carsten Korfmacher
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Um die Zahl der deutschen Intensivbetten wird seit einigen Wochen angeregt diskutiert. Fachleute warnen davor, dass die Kapazitäten auf deutschen Intensivstationen knapp werden, Kritiker der Corona-Maßnahmen entgegnen, dass die Belegung der Intensivbetten in diesem Jahr nicht von der Belegung in Vorjahren abweicht. Lässt sich dieser Disput auflösen?

Sehen wir uns die Zahlen einmal genauer an: Mit Stichtag 10. November 2020 gibt es bundesweit 28.490 Intensivbetten, von denen 21.567 belegt und 6.923 frei sind. Zudem gibt es eine Notfallreserve von 12.405 Intensivbetten, die innerhalb von sieben Tagen aufgestellt werden könnten. Derzeit sind 3.054 Covid-Patienten in Behandlung, von denen 1.735, also knapp 57 Prozent, invasiv beatmet werden.

Intensivbetten-Daten wurden früher nicht erhoben

Der Nordosten liegt mit rund 24 Prozent freier Kapazitäten in etwa im Bundesdurchschnitt: In Mecklenburg-Vorpommern sind noch 173 von 726 Betten frei, die Notfallreserve beträgt 260 Betten. In Brandenburg sind noch gut 26,5 Prozent aller Intensivbetten frei (210 von 792), für den Notfall könnten 429 zusätzliche Betten aufgestellt werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Zahlen nur Momentaufnahmen sind. Unfallopfer werden eingeliefert, genesene Patienten verlassen die Intensivstation, andere werden bei einer Verschlechterung ihres Zustands zurückverlegt und so weiter.

Mehr lesen: Corona: Intensivmediziner warnen vor drohender Überlastung

Tatsache ist auch, dass sich diese Zahlen nicht mit Daten aus der Vergangenheit vergleichen lassen, da letztere schlicht nicht erhoben wurden. Im März wurde das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, das sogenannte DIVI-Register, erstellt.

Immer mehr Covid-Patienten auf der Intensivstation

Dieses „gibt es erst seit diesem Jahr, insofern fehlt uns ein ähnliches Messinstrument für die vergangenen Jahre”, sagte Gerald Gaß, Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Nordkurier. Allerdings habe die durchschnittliche Belegungsquote der Intensivbetten im Winterhalbjahr „immer bei rund 80 Prozent” gelegen. Derzeit liegen wir bei über 75 Prozent, „spätestens Ende November” werde „diese Quote überschritten sein”.

Das bedeutet: Die Kritiker liegen mit ihrer Behauptung, dass die derzeitige Auslastung der Intensivbetten nicht sonderlich von der aus den Vorjahren abweicht, durchaus richtig. Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte. Denn die Warnung der Fachleute ist auf eine beunruhigende Entwicklung zurückzuführen, nämlich auf die Tatsache, dass sich die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen in den vergangenen zwei Monaten mehr als verzehnfacht hat.

Betten können wegen Personalmangel nicht betrieben werden

Und diese Zahl stieg in den vergangenen Wochen mit einer zunehmenden Geschwindigkeit an: Am 15. September wurden 236 Covid-Patienten auf einer Intensivstation behandelt, am 1. Oktober waren es 362, am 15. Oktober 655, am 1. November 2061 und am 10. November bereits über 3000. Selbst wenn diese Kurve abflacht, würden die Krankenhäuser spätestens in vier bis sechs Wochen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Es gibt nicht genug Intensivpfleger, um die vorhandenen Bettenkapazitäten auszureizen. „In den vergangenen Jahren blieben nach übereinstimmender Expertenmeinung rund 20 Prozent der Intensivbetten aufgrund des Pflegepersonalmangels gesperrt”, sagte DIVI-Sprecher Torben Brinkema dem Nordkurier.

Politik darf „nicht länger auf Zeit spielen”

Einige Kliniken hätten bereits Notfallprogramme aufgelegt: Bei einer Auslastung von annähernd 100 Prozent könnte Personal aus anderen Abteilungen abgezogen oder die Zahl der Betten pro Pfleger erhöht werden. Außerdem soll neues Personal in Schnellschulungen ausgebildet werden. DIVI-​Präsident Uwe Jans­sens fordert die Politik daher auf, „nicht länger auf Zeit” zu spielen: „Die Kran­ken­häuser mit einem hohen Aufkommen an Covid-19-Patienten müssen jetzt, umge­hend, aus dem Regel­be­trieb heraus­ge­nommen und auf Notbe­trieb umge­stellt werden”, so Janssens.

Diese Einschätzung deckt sich mit dem Erleben in den Krankenhäuserns des Nordostens. So sind im Mediclin Müritz-Klinikum in Waren derzeit 5 von 10 Intensivbetten frei. Die Kapazitäten könnten prinzipiell um 6 Betten aufgestockt werden, aber: Es steht nicht genug Personal zur Verfügung. Ähnlich sieht es in der Unimedizin Greifswald aus: Von 110 Intensivbetten sind momentan nur noch 15 frei, doch eine Aufstockung ist aufgrund der angespannten Personalsituation nicht möglich.

Corona-Patienten brauchen intensivere Pflege

Im Neubrandenburger Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum wurde die Zahl der Intensivbetten bereits von 38 auf 29 reduziert, von denen derzeit nur 3 Betten frei sind. Der Grund für die Reduzierung der Kapazitäten: Der Personalbedarf auf der 9 Betten zählenden, isolierten Corona-Intensivstation ist wesentlich höher.

Für Krankenhausgesellschafts-Präsident Gerald Gaß stellt dies ein weiteres Problem für Kliniken bundesweit dar: „Der pflegerische Auswand” für einen Covid-Patienten sei „deutlich höher und die Dauer seiner intensivmedizinischen Versorgung weitaus länger”. Das bedeutet: Wenn die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen nun weiter steigt, werden diese ihre Betten weitaus länger benötigen als anderen Patienten. Ein Zahlenvergleich der vergangenen Jahre, so Gaß, sei deshalb nicht hilfreich.