Nach Mord an Joel (6)
Wie redet man richtig mit Kindern über schreckliche Gewalttaten?
Neubrandenburg / Lesedauer: 7 min

Die schreckliche Meldung über den getöteten 6-jährigen Joel in Pragsdorf bei Neubrandenburg schockiert nicht nur Erwachsene. Auch Kinder werden so mit Tod und Gewalt konfrontiert, dazu noch mit einem jungen Gewaltopfer in ihrem Alter, das manche von ihnen vielleicht sogar persönlich kannten. Wie schon kürzlich beim Fall Finya, die 13-jährig an einer Überdosis der Droge "Blue Punisher" starb, stellen sich Eltern und Großeltern die Frage, wie sie mit den eigenen Kindern über so eine Gewalttat richtig und behutsam sprechen?
Sollten Eltern warten, bis ihre Kinder von sich aus das Thema ansprechen? Oder sollte man gezielt das Gespräch suchen?
Wenn Eltern ihre Kinder kennen und ihnen gut zuhören, werden sie selbst den richtigen Zeitpunkt für ein solches Gespräch erkennen. Denn sobald Kinder anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen, werden sie viele Fragen haben. Und dann sollten Eltern sich auch die Zeit nehmen, um sich diesen zu stellen. Was man auf keinen Fall machen sollte, ist die Kinder dazu zu drängen und zu sagen: So, jetzt setzen wir uns mal hin und reden über den gewaltsamen Tod eines Kindes. Andersherum sollte man so ein Gespräch, wenn das Kind damit anfängt, aber keinesfalls verweigern – im Gegenteil! Je kleiner das Kind ist, desto behutsamer sollte das Gespräch ausfallen, und desto schneller sollte man versuchen, die Aufmerksamkeit nach einer Weile des Gesprächs wieder auf ein anderes Thema zu lenken.
Das heißt, Eltern oder auch Großeltern sollten da eine abwartende Haltung einnehmen?
Es geht darum, sensibel hinzuschauen, wie der Bedarf der Kinder ist. Und dieser Zeitpunkt wird vielleicht schneller kommen, als es manchen Eltern lieb sein dürfte. Da kommen zwangsläufig Fragen auf. Eltern sollten aber nicht zu proaktiv Informationen geben, die man vielleicht schon als Erwachsener schwer verarbeiten kann – schon gar nicht bei kleineren Kindern. Andersherum dürfen Kinder und Jugendliche aber auch merken, dass die Tat auch den Eltern zusetzt.
Manchmal ist man vielleicht auch ein wenig „genervt“ von seinen Kindern, weil sie immer wieder die gleichen Fragen stellen. Aber Kinder fragen, um Sicherheit zu bekommen. Da sollten Eltern also nicht die Geduld verlieren, sondern es ruhig immer wieder erklären, ruhig auch jedes Mal mit denselben Worten.
Wie mit Trauer- und Schreckgefühlen von Kindern umgehen?
Kinder verarbeiten entsetzliche Erlebnisse anders als Erwachsene, sagt Trauertherapeut Roland Kachler. „So äußert sich Trauer bei Kindern sprunghaft. Denkbar ist, dass ein Kind plötzlich sehr wütend oder sehr albern wird. Die Stimmungen können also stark schwanken.“ Wenn Familienmitglieder, Freunde oder nahe Bekannte sterben, kann es passieren, dass Kinder in einem Moment furchtbar weinen und dann plötzlich laut lachen.
Häufig stellen Kinder in derartigen Situationen besonders viele Fragen. So schwer es in dem Moment für einen selbst auch ist: Eltern sollten die Fragen ernst nehmen und ehrlich beantworten. Am besten schafft man dafür eine ruhige Atmosphäre. Auch um nach so einer schlimmen Nachricht Halt zu geben. Auch damit die Kinder sich den Schock von der Seele reden können.
Wie können Eltern die Gefühle der Kinder auffangen?
„Eltern sollten die Gefühle der Kinder klar benennen und sie begrüßen“, so Kachler. „Das hilft Kindern zu verstehen, was gerade passiert.“ Erwachsene können etwa sagen: Du bist wütend, weil dein Freund gestorben ist, oder? Du bist jetzt vielleicht traurig, weil die Freundin nicht mehr lebt. Das verstehe ich, und es ist völlig in Ordnung.
Wie Kinder auf einen Verlust oder Tod oder das Bewusstsein von Gewalt reagieren, hängt auch von ihrem Alter ab. „Kinder unter fünf Jahren haben noch kein Zeitgefühl. Sie verstehen noch nicht, was „für immer“ bedeutet“, erklärt Roland Kachler. Erst ab fünf Jahren können sie langsam Gefühle erkennen und benennen. Und noch später können sie zudem verstehen, dass der Verstorbene nicht mehr wieder kommt.
Wie redet man richtig über das Thema Gewalt?
Die Brutalität und Grausamkeit eines Kindsmords bleibt auch jüngeren Kindern nicht verborgen - es hilft also nichts, zu versuchen, in Gesprächen etwas anderes zu behaupten. Gerade kleineren Kindern gegenüber sollte man aber nicht zu sehr ins Detail gehen und darauf abzielen, dass es auf unserer Welt leider auch böse Menschen gibt, gleichzeitig aber auch vermitteln, dass Kinder bei ihren Eltern grundsätzlich in Sicherheit sind.
Zugleich sollte auch schon mit kleineren Kindern thematisiert werden, wie sie sich in Situationen, in denen sie allein unterwegs sind, richtig zu verhalten haben. Die eigene Angst des Kindes, Opfer einer Gewalttat zu werden, lässt sich ebensowenig unterdrücken wie dieselbe Angst bei den Eltern: Sie ist nun einmal da und deshalb muss auch darüber gesprochen werden.
Noch mehr als bei Kindern empfiehlt sich bei Jugendlichen, keine falschen Versprechungen zu machen: Natürlich ist man zu Hause bei seinen Eltern in Sicherheit und natürlich wird alles versucht, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass das Risiko einer solchen Tat nun einmal besteht - das sollte man gerade älteren Kindern und Jugendlichen nicht verschweigen.
Was, wenn das Kind um den toten Joel trauert?
Eine solche Reaktion ist zunächst einmal ganz normal und auch für Erwachsene durchaus angemessen. Die Trauer kann sich bei Kindern auf verschiedenste Weise äußern. „Häufig zeigt sich bei Kindern der Schmerz über einen Verlust auch in Form eines Körperschmerzes“, sagt Kachler, der als Psychologischer Psychotherapeut in seiner Praxis in Remseck Menschen in Trauersituationen begleitet.
Sein Tipp: „Eltern können darauf reagieren, indem sie auf das Gefühl des Kindes eingehen und eine Lösungsidee geben.“ Sie könnten zum Beispiel sagen: Deine Trauer macht sich wahrscheinlich gerade in deinem Bauch bemerkbar. Soll ich dir meine Hand auflegen oder eine Wärmflasche machen, damit die Schmerzen weggehen?
Wie können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen?
Damit die Situation Kinder nicht überfordert, sollten Erwachsene sie mit ihrer Trauer nicht allein lassen. „Hilfreich für ein Kind ist es, wenn sie der Trauer Ausdruck verleihen können — sie also Handlungsoptionen bekommen“, sagt Roland Kachler.
So kann man das Kind animieren, ein Bild seiner Trauer zu malen oder ein schönes Erlebnis mit dem oder der Verstorbenen aufzuschreiben. Oder das Kind schreibt einen Brief. „So können Kinder ihre Trauer ausdrücken und gestalten“, sagt Kachler, der das Kinderbuch „Wie ist das mit der Trauer?“ geschrieben hat.
Wie kann ich auf die Fragen des Kindes reagieren?
Eine Schlüsselfrage ist etwa: Wo ist der oder die Tote jetzt? „Kinder brauchen auf diese Frage gute Antworten“, so Roland Kachler. „Idealerweise erklärt man alles in einer einfachen Sprache. Dabei können Bilder helfen, die die Kinder später selbst abwandeln können.“ So kann man antworten: Ich denke, dein Freund/deine Freundin ist jetzt auf einem Stern und passt da gut auf dich auf.
Bücher, die das Thema kindgerecht aufbereiten, können auch dabei unterstützen, über die Trauer zu sprechen. „Ich würde dem Kind da ein Angebot machen — also ein Buch zur Trauer einfach ins Zimmer legen. Wenn es das Buch nimmt und darin liest, können Eltern sich dazu setzen“, sagt Kachler. Oft verarbeiten Kinder ihre Gefühle auch im Spiel, dafür gibt es eigene Trauergruppen für Kinder.
Was sollten Eltern beachten, die selbst heftige Trauer oder Entsetzen empfinden?
„Kinder neigen dazu, dass sie zusätzlich zur eigenen Trauer, auch noch die Trauer von anderen Menschen übernehmen, insbesondere wenn Mama oder Papa großen Schmerz empfinden“, sagt Trauertherapeut Roland Kachler. „Doch dies überfordert Kinder und blockiert nicht selten ihre eigene Trauerbewältigung.“ Auch Ängste und Verunsicherung können dann bei ihnen auftreten.
Eltern sollten daher ihre Gefühle zwar nicht verbergen oder gar leugnen. Doch sie sollten darauf achten, dass sie ihre Trauer gegenüber dem Kind begrenzen, rät Kachler. Eltern könnten zum Beispiel sagen: Ich bin sehr traurig. Aber darum musst du dir keine Sorgen machen. Darum kümmere ich mich selbst. Über die Gefühle kann ich mit meiner Freundin sprechen. Und Eltern sollten sich auch selbst unbedingt Trost und Gesprächspartner suchen, um zu verarbeiten.