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Der Wohnungsbau ist eine einzige Baustelle

Berlin / Lesedauer: 8 min

400.000 neue Wohnungen im Jahr hat die Ampelregierung in Aussicht gestellt. Doch die Baubranche erlebt den größten Einbruch seit Jahrzehnten. So will die Bundesregierung gegensteuern.
Veröffentlicht:05.10.2023, 17:43

Von:
  • Claudia Kling
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11.998,80 Euro Kaltmiete für eine Mietwohnung: Das ist selbst im angesagten Berlin ein eher ungewöhnliches Angebot. Der Mieter bekommt dafür immerhin 213,5 Quadratmeter Wohnfläche, eine maßgefertigte Küche und eine Sauna. Nur das Hündchen, falls er denn eines hätte, dürfte nicht mit einziehen: Haustierverbot.

Wer kann, bleibt wo er ist

Zugegeben: Diese Annonce repräsentiert nicht die Mietpreise, die tatsächlich in der Bundeshauptstadt bezahlt werden. Sie zeigt aber doch, wie sich der Wohnungsmarkt in Großstädten mit hohem Zuzug verändert hat. Wer als erster in ein neu gebautes Haus einzieht, zahlt astronomische Summen. Wer kein Krösus ist und eine normale Zwei- bis Dreizimmerwohnung sucht ‐ kein Neubau, kein Erstbezug ‐ wird mitleidig belächelt.

Denn der Mietmarkt ist in vielen Großstädten tot. Da Umzüge meist höhere Kosten für weniger Platz nach sich ziehen, bleibt jeder, wenn er kann, wo er ist. Auch den Wechsel von der Mietwohnung in die eigene Immobilie können sich immer weniger Menschen leisten, mit der Folge, dass Umzugsketten abbrechen. Was helfen könnte? Eine Wohnbauoffensive. Doch die Ampel-Koalition kommt bei diesem Vorhaben nicht so richtig voran.

Dabei fing vor zwei Jahren alles so vielversprechend an. Als sich SPD, Grüne und FDP zu einer Ampel-Koalition zusammenschalteten, belebten sie ein Ministerium wieder, das bis dahin wie eine Art Wurmfortsatz am Bundesinnenministerium hing: dass Ressort für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. Zur Chefin wurde die brandenburgische SPD-Politikerin Klara Geywitz gemacht.

Zahl der Baugenehmigungen um 27 Prozent gesunken

In ihrem Koalitionsvertrag hielten die Ampel-Parteien das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen im Jahr fest, davon sollten 100.000 Sozialwohnungen sein. Doch von diesem Ziel ist die Bundesregierung weit entfernt. Und, fast noch schlimmer, sie entfernt sich immer weiter. Diejenigen, die einst Horst Seehofer als CSU-Innen- und Bauminister in Personalunion vorwarfen, die Wohnungsmisere nicht ernst genug zu nehmen, streuen inzwischen Asche auf ihr Haupt. Er hatte es immerhin auf 300.000 Wohnungen im Jahr 2020 gebracht.

Nun brechen die Zahlen ein, und die Prognosen verheißen wenig Gutes. Im vergangenen Jahr wurden 295.300 Wohnungen gebaut, 2023 werden es nach Hochrechnungen nur noch 223.000 sein. Für kommendes Jahr sind 177.000 neue Wohneinheiten pro Jahr prognostiziert. Laut Statistischen Bundesamt sank die Zahl der Baugenehmigungen von Januar bis Juli um 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Dies entspricht einem Rückgang um 60.300 auf 156.000 Wohnungen.

Konzern vertagt den Bau von 60.000 Wohnungen

Auch das Ifo-Institut geht davon aus, dass sich die Krise im Wohnungsbau zuspitzt. Im August hätten 20,7 Prozent der Firmen von abgesagten Projekten berichtet, nach 18,9 im Vormonat. Das sei ein neuer Höchststand bei den Stornierungen. Seit Beginn der Erhebung im Jahr 1991 hat das Wirtschaftsforschungsinstitut nichts Vergleichbares beobachtet. Wegen der rasant gestiegenen Baukosten und des höheren Zinsniveaus seien viele Projekte nicht mehr rentabel.

Das sieht auch Deutschlands größter Immobilienkonzern Vonovia so, der nach eigenen Angaben den Bau von insgesamt 60.000 Wohnungen so lange „schubladisieren“ will, wie man in der Schweiz sagen würde, bis sich Bauen wieder lohnt. Die Baukosten seien von 3000 auf 5000 Euro pro Quadratmeter gestiegen. Um diese Ausgaben wieder reinzukriegen, müssten die Mieten im Neubau bei 20 Euro pro Quadratmeter liegen, teilt das Unternehmen mit.

Bei einer 70-Quadratmeter-Wohnung wären das 1400 Euro Kaltmiete. Zu viel für viele Mieter, erst recht für die Hunderttausenden, die derzeit nach Deutschland kommen, weil sie vor Kriegen und Konflikten in ihren Heimatländern fliehen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verstärkt die Wohnungsmarktmisere in Deutschland also doppelt: Sowohl die Baukosten als auch die Nachfrage nach Wohnungen sind gestiegen.

Preissturz macht Lage kaum besser

Dass gleichzeitig die Preise für Häuser und Wohnungen in den Keller gehen, macht die Lage kaum besser. Laut Statistischem Bundesamt musste für Wohnimmobilien im zweiten Quartal dieses Jahres 9,9 Prozent weniger bezahlt werden als im zweiten Vierteljahr 2022. Das war der größte Rückgang seit 2000.

Dennoch müssen viele Privatleute den Traum vom Eigenheim begraben, weil ihre Finanzierungskonzepte wegen des raschen Zinsanstiegs nicht mehr aufgehen. Dazu kommt die Unsicherheit wegen des neuen Gebäudeenergiegesetzes und der damit verbundenen Auflagen.

Nordkurier-Serie

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„Irgendetwas stimmt hier nicht“: Dieses Gefühl hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren festgesetzt. Nach knapp zwei Jahren Ampel-Regierung, nach Jahren der Krise durch Pandemie, Krieg und Inflation, ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie ist es um Deutschland derzeit bestellt? Um diese Frage zu beantworten, hat der Nordkurier die 13 wichtigsten Aspekte des politischen Lebens in der Bundesrepublik unter die Lupe genommen. Ob es um Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Sozialstaat, Energiepolitik oder Kriminalität geht: Der Nordkurier legt die Probleme des Landes knallhart offen – und wagt dort, wo es angebracht ist, auch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.

Teil 1: Deutschlands gefährliche Wohlstandsillusion

Teil 2: Das Dilemma der deutschen Einwanderungspolitik

Teil 3: Warum der Sozialstaat neu gedacht werden muss

Teil 4: Gesundheitswesen auf dem Krankenbett

Teil 5: Wie die Politik den ländlichen Raum vergisst

Teil 6: Polizei am Limit: Nachwuchs verzweifelt gesucht

Teil 7: Wer soll die deutsche Energiepolitik eigentlich bezahlen?

Teil 8: Klimaschutz auf Deutsch ‐ Mit reinem Gewissen in den Untergang

Teil 9: Der Wohnungsbau ist eine einzige Baustelle

Teil 10: „Unser Zukunft hängt vom Bildungssystem ab“

Teil 11: Krieg und Frieden – Eine Zeitenwende

Teil 12: Digitalisierung? Deutsche Wirtschaft nutzt noch immer Faxgeräte

Teil 13: Die deutsche Politik steckt in einer Systemkrise

Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vom Juli dieses Jahres war im ersten Halbjahr 2023 nur noch in rund einem Drittel (141 von 400) der Landkreise in Deutschland Wohneigentum erschwinglich ‐ in diesen Landkreisen wohnte aber nur ein Viertel der Einwohner Deutschlands.

Zum Vergleich: Im ersten Halbjahr 2018 war es laut IW noch in 80 Prozent der Landkreise und kreisfreien Städte für Haushalte mit einem mittleren Einkommen möglich, eine selbst genutzte Wohnimmobilie mit 130 Quadratmetern Wohnfläche mittleren Preisniveaus zu erwerben und für die Finanzierung höchstens 30 Prozent des Haushaltseinkommens auszugeben. In diesen Landkreisen wohnten 70 Prozent der Bevölkerung. Dass sich immer weniger Menschen den Wechsel in die eigene Immobilie leisten können, verknappt in der Folge das Angebot an Mietwohnungen.

Die Dringlichkeit all dieser Probleme ist der Ampel-Koalition wohl bewusst, dennoch passiert bislang nichts oder zumindest zu wenig, wie Opposition und Unternehmen kritisieren. Immerhin: In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung beim zweiten Treffen des Bündnisses bezahlbarer Wohnraum in Berlin einen 14-Punkte-Plan vorgelegt, der zu mehr Investitionen in den Bau von „bezahlbarem und klimagerechtem Wohnraum“ führen ‐ und die Bau- und Immobilienwirtschaft stabilisieren soll.

Von einigen Vorhaben profitieren Bauwillige konkret: So soll für Neubauten weiterhin der Energieeffizienz-Standard EH55 gelten und nicht, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, von 2025 an EH40. Ohne diese Abkehr hätten sich die Baukosten nach Berechnungen von Experten weiter um mindestens zehn Prozent erhöht.

Bundesregierung hofft, dass die Länder mitziehen

Zudem können mehr Familien als bislang ein zinsvergünstigtes Darlehen für Wohneigentum beantragen. Die Einkommensgrenze wurde für eine Familie mit einem Kind von 60.000 Euro auf 90.000 zu versteuerndem Jahreseinkommen angehoben, die Kredithöchstbeträge wurden ebenfalls um 30.000 Euro erhöht. Der staatliche Zuschlag beim Heizungstausch wurde von maximal 70 auf 75 Prozent erhöht, der sogenannte Speed-Bonus steigt für die Jahre 2024 und 2025 von 20 auf 25 Prozent.

Für Baufirmen wurden zudem die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten verbessert, damit sie ihre Investitionen schneller refinanzieren können. Den sozialen Wohnungsbau will die Bundesregierung mit 18,15 Milliarden Euro bis 2027 unterstützen. Es wird darauf gesetzt, dass die Länder mit noch mehr Mittel mitziehen. Auch bei dem Vorhaben, die Grunderwerbsteuer beim Kauf einer selbst genutzten Immobilie zu senken, setzt der Bund auf die Länder.

Immerhin: Mit ihrem 14-Punkte-Plan hat die Ampel-Koalition mehr in Gang gebracht, als Verbände und Unternehmen in der Bauwirtschaft erwartet hatten. Doch ist es der große Wumms, mit dem Bauministerin Geywitz den Karren aus dem Dreck ziehen kann? Wohl kaum. Damit schnell mehr Wohnungen gebaut werden, braucht es mehr als Absichtserklärungen: weniger Auflagen beim Bau sowie digitale und vereinheitlichte Baugenehmigungen, um über Länder- und Landkreisgrenzen hinweg serielles Bauen zu ermöglichen.

Passiert dies nicht, können Geywitz und alle anderen in der Bundesregierung zwar davon träumen, dass in Deutschland zeitnah Hunderttausende bezahlbare Wohnungen entstehen, dass Gebäude aufgestockt und brachliegende Büroflächen in Wohnraum umgewandelt werden. Aber in der Praxis wird nichts vorangehen.