Nordkurier-Serie
Deutschlands gefährliche Wohlstandsillusion
Berlin / Lesedauer: 10 min

Carsten Korfmacher
Hier stimmt doch etwas nicht. Dieses Gefühl beschleicht viele Bundesbürger in letzter Zeit immer häufiger. Oft macht sich das an den kleinen Dingen des Alltags fest: Die Bahn fährt kaum noch pünktlich, bis zum Termin beim Facharzt vergehen Monate. Und die Lebensmittelpreise wollen einfach nicht aufhören zu steigen. Tatsächlich ist das dadurch ausgelöste allgemeine Gefühl des Unbehagens berechtigt. Denn die Bundesrepublik steht am Anfang einer extrem schwierigen Phase in ihrer noch jungen Geschichte: Es droht das Ende der selbstverständlichen Wohlstandsmehrung.
Deutschland hat sich nicht für schlechte Zeiten gewappnet
In den kommenden Wochen werden wir uns in der Serie „Baustelle Deutschland“ diese Zeitenwende der anderen Art genauer ansehen: Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Welche Folgen hat sie? Und lässt sie sich vielleicht doch noch irgendwie aufhalten?
Beginnen wir mit einer ernüchternden Einsicht: Deutschland hat es in den fetten Jahren verpasst, sich für schlechte Zeiten zu wappnen. Jetzt muss alles gleichzeitig gemacht werden: Bürokratie abbauen, Verwaltungen digitalisieren, Infrastruktur erneuern, Qualität des Bildungswesens steigern, die Rente zukunftsfest machen und noch vieles mehr. Jeder einzelne Punkt verursacht enorme Kosten, und das in einer Zeit, in der es sowieso schon an allen Ecken und Enden kriselt. Corona-Pandemie, gestörte Lieferketten und inflationsbedingte Leitzinserhöhungen haben die Unternehmen geschwächt, und die geopolitischen Zerwürfnisse durch Ukraine-Krieg und Taiwan-Frage treffen eine exportorientierte Wirtschaft wie die der Bundesrepublik besonders hart. Hinzu kommt der klimabedingte Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, der insbesondere die Industrie belastet, die für mehr als ein Viertel der gesamten deutschen Wertschöpfung verantwortlich ist.

Dieses krisenbedingte wirtschaftliche Umfeld trifft auf langfristige demografische Trends, die in der Bundesrepublik eine hochexplosive Mischung bilden. Durch die alternde Bevölkerung sinkt die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, woraus eine Abwärtsspirale entsteht: Die Produktion der Unternehmen geht zurück, die Wirtschaft schrumpft, die Steuereinnahmen sinken, die Staatsverschuldung steigt und die sozialen Sicherungssysteme geraten unter Druck. Gleichzeitig steigen die Finanzierungskosten der Versorgungssysteme, weil Rente, Pflege und Gesundheitswesen von immer mehr älteren Bürger in Anspruch genommen werden.
Die Bundesrepublik ist deshalb auf dem besten Weg, wie in den frühen 2000er-Jahren zum „kranken Mann Europas“ zu werden. Damals hat nur eine fundamentale Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme für einen neuen Aufschwung der Wirtschaft gesorgt. Doch der Preis war hoch und die Folgen begleiten uns noch heute: In Deutschland, und insbesondere im Osten, entstand der größte Niedriglohnsektor Westeuropas, was zu Mini-Renten, steigender Altersarmut und einer zunehmenden Abhängigkeit von staatlichen Leistungen für Arbeitnehmer in den unteren Lohnsegmenten führte. Die wirtschaftliche Stabilisierung musste durch den Abbau sozialer Sicherheiten teuer erkauft werden.
Migration wird das große Konfliktthema in Europa
Dieses Mal wird es nicht anders sein. Doch die Vorzeichen sind negativer, weil viele Potenziale bereits ausgeschöpft sind: Die Arbeitslosenquote hat sich seit der Jahrtausendwende halbiert, Frauen arbeiten deutlich häufiger und das tatsächliche Renteneintrittsalter ist um rund zwei Jahre gestiegen. Aus all diesen Bevölkerungsgruppen wird es deshalb immer schwerer, zusätzliche Fachkräfte für den Arbeitsmarkt zu gewinnen. Das größte Problem jedoch ist, dass zu Beginn der Sozialreformen der Agenda 2010 die geburtenstärksten Jahrgänge der Nachkriegszeit – die zwischen 1961 und 1966 Geborenen – auf dem Höhepunkt ihrer Arbeitsproduktivität waren. Die damals um die 40-Jährigen gehen heute in Rente, die Zahl der Nachrücker hat sich nahezu halbiert.
All dies bedeutet, dass die Bundesrepublik eine massive Einwanderung in den Arbeitsmarkt benötigt, um die drohenden Wohlstandsverluste aufzuhalten. Die Schätzungen gehen mittelfristig von einer notwendigen jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 bis 1,8 Millionen Personen aus. Selbst am unteren Ende der Spanne sind diese Zahlen im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte unvorstellbar hoch. Somit ist zu erwarten, dass das Thema „Migration“ die gesellschaftspolitische Debatte der kommenden Jahre und Jahrzehnte dominieren wird, zumal Einwanderer zukünftig nicht mehr wie früher aus Süd- oder Osteuropa, sondern aus Afrika, dem Nahen Osten und Asien stammen werden. Denn der demografische Wandel ist in Ländern wie Polen, Bulgarien oder Rumänien ähnlich weit fortgeschritten wie in der Bundesrepublik, während das Durchschnittsalter in Syrien, Indien, den Philippinen oder Ghana teilweise nur halb so hoch ist wie in europäischen Ländern.

Baustelle Deutschland
„Irgendetwas stimmt hier nicht“: Dieses Gefühl hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren festgesetzt. Nach knapp zwei Jahren Ampel-Regierung, nach Jahren der Krise durch Pandemie, Krieg und Inflation, ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie ist es um Deutschland derzeit bestellt? Um diese Frage zu beantworten, hat der Nordkurier die 13 wichtigsten Aspekte des politischen Lebens in der Bundesrepublik unter die Lupe genommen. Ob es um Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Sozialstaat, Energiepolitik oder Kriminalität geht: Der Nordkurier legt die Probleme des Landes knallhart offen – und wagt dort, wo es angebracht ist, auch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.
Teil 1: Deutschlands gefährliche Wohlstandsillusion
Teil 2: Das Dilemma der deutschen Einwanderungspolitik
Teil 3: Warum der Sozialstaat neu gedacht werden muss
Teil 4: Gesundheitswesen auf dem Krankenbett
Teil 5: Wie die Politik den ländlichen Raum vergisst
Teil 6: Polizei am Limit: Nachwuchs verzweifelt gesucht
Teil 7: Wer soll die deutsche Energiepolitik eigentlich bezahlen?
Teil 8: Klimaschutz auf Deutsch ‐ Mit reinem Gewissen in den Untergang
Teil 9: Der Wohnungsbau ist eine einzige Baustelle
Teil 10: „Unser Zukunft hängt vom Bildungssystem ab“
Teil 11: Krieg und Frieden – Eine Zeitenwende
Teil 12: Digitalisierung? Deutsche Wirtschaft nutzt noch immer Faxgeräte
Diese Entwicklung ist vorhersehbar. Die Gefahr ist, dass sie zu fremdenfeindlichen Ressentiments und Verteilungskämpfen insbesondere in der unteren Mittelschicht führt. Umso erstaunlicher ist es, wie verkrampft, tabubehaftet und ideologiegeladen die Einwanderungsdebatte in Deutschland ist. Wenn die Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt nicht besser gelingt und die Spaltung der Gesellschaft aufgrund von wachsender Armut und sinkendem Wohlstand zunimmt, dann wird Migration zum größten europäischen Konfliktthema – und führt womöglich zu politischen Turbulenzen, die derzeit noch schwer vorstellbar sind. Und wenn sich die Prognosen vieler Experten bewahrheiten, dann könnte der Klimawandel den Migrationsdruck noch weiter steigen lassen. Schon heute sind Teile Afrikas und des Nahen Ostens nicht mehr bewohnbar, weil durch die Temperaturanstiege ganze Regionen ihre landwirtschaftliche Nutzbarkeit verloren haben.
Unternehmen vertrauen der deutschen Politik nicht
Das führt zum nächsten großen Konfliktherd: All diese Entwicklungen fallen in eine Periode, in der die Bekämpfung des Klimawandels immer mehr ins Zentrum des politischen Handelns rückt. Dieser ist aber nicht zum Nulltarif zu haben. Die Energiewende kostet Geld und es gibt bisher keinen klaren Plan, wie sie finanziert werden soll, ohne Wirtschaft und Bürger massiv zu belasten. Die Klimawende müsste zu einem Wachstumstreiber werden, ansonsten ist der Klimaschutz dem Untergang geweiht, bevor er global überhaupt erst richtig begonnen hat. Denn realistisch betrachtet werden die Bürger nicht bereit sein, Klimaschutz durch eigene Wohlstandsverluste zu erkaufen. Dies trifft nicht nur auf Deutschland zu: Nirgendwo in der Welt wird sich eine bürgerliche Mehrheit finden, die das, was sie sich aufgebaut hat, zum Wohle des Klimas opfert. In Indien, Brasilien oder Indonesien werden die Menschen Wege aus der Armut suchen und nach Wohlstand streben – ob sie dabei CO2 emittieren oder nicht. Und das ist auch ihr gutes Recht.

Deshalb braucht es eine wirtschaftlich stimulierende, globale Energiewende, ein internationales grünes Wirtschaftswunder, in dem die Bundesrepublik eine Hauptrolle spielt. Ein solches Wunder verspricht die Bundesregierung ihren Bürgern. Doch es wird zunehmend unwahrscheinlich, dass es tatsächlich eintritt. Warum? Wer wissen will, ob ein Fußballverein am Wochenende ein Spiel gewinnt, der fragt nicht den Trainer nach den Erfolgsaussichten, sondern sieht sich die Wettquoten an. Denn Wunschdenken endet, wenn es ums Geld geht. Und wer wissen will, ob die deutsche Wirtschafts- und Energiepolitik erfolgreich ist, der fragt nicht die Bundesregierung nach den Erfolgsaussichten, sondern sieht sich die Direktinvestitionen von Firmen im In- und Ausland an. Diese stellen strategische Entscheidungen mit einem langen Zeithorizont dar, zum Beispiel Firmenübernahmen, Neugründungen, Fabrikbauten oder andere Arten von Investitionen.
Das Ergebnis ernüchtert: Deutsche Unternehmen verlagern ihre Investitionen ins Ausland und ausländische Firmen fahren ihre Direktinvestitionen in Deutschland deutlich herunter. Nach OECD–Zahlen lagen die Kapitalabflüsse aus Deutschland im Jahr 2022 bei fast 135,5 Milliarden Euro, gleichzeitig wurden nur rund 10,5 Milliarden Euro aus dem Ausland in Deutschland investiert. Im Jahr 2022 wurde nach Angaben der Deutschen Bundesbank der höchste bisher verzeichnete Netto-Abfluss von Kapital aus der Bundesrepublik registriert. Diese Zahlen sind erschreckend, weil sie, anders als kurzfristig orientierte Konjunkturprognosen, einen Blick auf die kommenden Jahre und Jahrzehnte gewähren. Und hier zeigt sich: Die Firmen trauen den Versprechungen der deutschen Politik nicht und stimmen mit dem Geldbeutel ab – und zwar gegen Deutschland als Wirtschaftsstandort.
Die Misere ist auch eine Mentalitätskrise
Die Bundesrepublik muss sich auf harte Zeiten vorbereiten. Doch die Lage ist nicht hoffnungslos. Durch eine kluge, mutige Politik und einen wirtschaftlichen Kraftakt lassen sich die Herausforderungen meistern, vor denen die Bundesrepublik und der gesamte europäische Kontinent stehen. Dazu braucht es vor allem eines: ein Eingeständnis der Dramatik der Lage. Derzeit scheint es allerdings, als lebten Politik und Gesellschaft in einer kollektiven Wohlstandsillusion, wohl auch, weil die meisten Deutschen Zeiten des Wohlstandsverlustes aus eigener Erfahrung nicht kennen.
Statt die immer notwendiger werdenden Strukturreformen anzugehen, nicht nur im infrastrukturellen, sondern auch im sozialen Bereich, drehen sich öffentliche Debatten meist um Sozialleistungserhöhungen in dieser oder jener Form. Weder in der Politik noch in der Bevölkerung scheint die schmerzhafte Wahrheit angekommen zu sein: Die Zeiten, in denen unser größtes Problem war, wie genau wir unseren Wohlstand umverteilen, sind erst einmal vorbei.
Somit ist die deutsche Misere auch eine Mentalitätskrise. In harten Zeiten aber muss die Politik ideologiegetriebene Projekte aufgeben und pragmatisch nach den besten Lösungen suchen. Gleichzeitig muss die Bevölkerung die Politik zu Strukturreformen ermächtigen. So ist das eben in einer liberalen Demokratie. Sind die Bürger nicht zu Einschnitten bereit, passiert auch über Jahrzehnte nichts, selbst wenn die Probleme offensichtlich sind. Das Rentensystem ist das beste Beispiel.
Ob bei Infrastruktur, Bildung, Einwanderung, Gesundheit oder Energie: Deutschland braucht grundlegende Reformen, nicht kleinteiliges Herumdoktern an Mechanismen, die das Land überhaupt erst in diese Krise geführt haben. Die Bundesrepublik braucht den großen Wurf, und zwar auf jeder Ebene. Diese Serie legt die Schwierigkeiten, aber auch die Chancen dieses steinigen Weges offen.