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Die düstere Zukunft der deutschen Mittelschicht

Berlin / Lesedauer: 12 min

Die Sorge wächst, dass Deutschlands Mittelschicht immer kleiner wird. Doch die wahre Bedrohung liegt woanders: nämlich in der Zukunft der Arbeit in diesem Land.
Veröffentlicht:27.07.2022, 18:32

Von:
  • Carsten Korfmacher
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Die deutsche Mittelschicht steht unter Druck. Wie wir in dieser Serie sahen, haben die Hartz-Reformen der frühen 2000er das Abstiegsrisiko für viele Bürger in den mittleren Einkommensschichten deutlich erhöht. Durch die Corona-Pandemie wurde vor allem das untere Drittel der Mitte weiter geschwächt und mit der anhaltend hohen Inflation wachsen selbst in finanziell bisher sicher aufgestellten Haushalten die Existenzängste.

Der Auftakt zu unserer Serie - Die Inflation zermürbt die Mittelschicht

Pandemie als Brandbeschleuniger

Die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre haben damit eine explosive Gemengelage hervorgebracht, die zumindest über einen gewissen Zeitraum eine Bedrohung für das soziale Gefüge in Deutschland darstellt. Und doch sollten wir diese Entwicklungen nicht dramatisieren. Ob Inflation, Krieg, Energiekrise, Lieferkettenprobleme oder die wachsende Wahrscheinlichkeit einer globalen Rezession: Über kurz oder lang werden all diese Probleme gelöst, wodurch der Druck auf die Mittelschicht zumindest von dieser Seite abnehmen wird.

Bedrohung durch digitalen Wandel

Durch die vielen Krisen der letzten Jahre ist aber eine ganz andere Entwicklung aus dem Blickfeld geraten, die für die Mittelschicht deutlich existenzbedrohender ist: die Digitalisierung der Arbeitswelt. Hierbei handelt es sich nicht wie bei den Pandemie-Folgen um einen externen Schock, an den sich die Wirtschaft anpassen kann, sondern um eine innere Transformation, die permanente Veränderungen mit sich bringt.

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Ein Cafe, das während der Pandemie schließen und seine Mitarbeiter entlassen musste, wird nach der Pandemie wieder öffnen und – alte oder neue – Mitarbeiter einstellen. Doch einmal automatisierte Arbeitsplätze sind meist für immer verloren. Und so geistert schon seit Jahren ein Schreckgespenst durch die öffentliche Debatte, das wir seit der Jahrtausendwende eigentlich schon in Rente glaubten: nämlich jenes der Massenarbeitslosigkeit, die große Teile der Mittelschicht verschlucken wird.

Maschinen verdrängen Menschen

Die Geschichte, die dann oft erzählt wird, ist die folgende: Durch die Robotorisierung der Arbeitswelt wurden zunächst die einfachen Tätigkeiten zum Beispiel in der Fließbandproduktion automatisiert. Dieser Prozess soll sich nun fortsetzen und auf weitere Berufsfelder ausdehnen. Denn mit der Weiterentwicklung moderner Technologien verdrängen Maschinen zunehmend auch Arbeitnehmer, die komplexere Tätigkeiten ausführen.

Nachdem die Automatisierung der Arbeitswelt bereits weite Teile der Industrie und der Landwirtschaft erfasste, sind zukünftig auch klassische Mittelschichtsberufsfelder, zum Beispiel im Gesundheitssystem, der Pflege, der Verwaltung oder im Bildungsbereich, bedroht. Die Befürchtung: Immer weniger Bürger finden tatsächlich Arbeit und die Gesellschaft wird durch die Wucht der sich zuspitzenden Verteilungskämpfe zerrissen.

Mehr als die Hälfte der Jobs in Gefahr

Tatsächlich ist in Deutschland mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze durch eine mögliche Automatisierung bedroht, stellte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahr 2019 fest. Dabei werden 18 Prozent aller Arbeitsplätze mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 70 Prozent zukünftig von Maschinen übernommen, bei weiteren 36 Prozent liegt die Automatisierungswahrscheinlichkeit zwischen 50 und 70 Prozent. Die Bundesrepublik hat damit unter allen OECD-Ländern einen der höchsten Anteile an Arbeitsplätzen, die sich durch moderne Technologien verändern oder ganz wegfallen werden.

Selber nachprüfen: Gehören Sie eigentlich zur Mittelschicht in Deutschland?

Die Mitte ist hier einem besonderen Risiko ausgesetzt. Das liegt daran, dass mit 54 Prozent mehr als die Hälfte aller Jobs in der deutschen Mittelschicht auf zwei Bereiche fallen, die ein besonders hohes Automatisierungsrisiko aufweisen: nämlich die verarbeitende Industrie und öffentlichen Dienstleistungen. Für die Bundesrepublik führt dies nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im Sicherheitsgefühl der Bürger zu einem gewaltigen Umbruch: Denn über Jahrzehnte galten Jobs in der öffentlichen Verwaltung, bei Banken und Versicherungen, im Bildungssektor oder im Gesundheits- und Sozialwesen als beispielhaft sichere Angelegenheiten. Doch wenn es Politik und Wirtschaft mit der Digitalisierung ernst meinen, werden große Teile der Büroangestellten durch künstlich intelligente Software, Robotik und Big Data überflüssig – insbesondere in der öffentlichen Verwaltung.

Dies zeigt sich auch in den Prognosen zum zukünftigen Beschäftigungswachstum in der Mittelschicht, das laut Bertelsmann-Stiftung „in den hochqualifizierten Berufen (...) stark sein und auch in den geringqualifizierten Hilfstätigkeiten und den Dienstleistungs- und Verkaufsberufen positiv ausfallen” wird. Für die mittleren Einkommen sieht es hingegen düster aus: Die Wachstumsprognosen „für Berufe mit mittlerer Qualifikation” seien „pessimistischer” und „für Handwerks- und Gewerbeberufe sowie für Büroangestellte sind sogar negative Veränderungsraten zu erwarten”. Damit droht eine deutliche Zuspitzung der sich bereits abzeichnenden Polarisierung der Mittelschicht: Die Zahl der mittleren Einkommen nimmt ab, während immer mehr Bürger entweder in die sehr niedrigen oder sehr hohen Einkommenschichten abrutschen oder aufsteigen.

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Massenarbeitslosigkeit ist nicht das Problem

Die Digitalisierung wirkt sich dabei höchst unterschiedlich auf verschiedene Länder, Regionen, Branchen, Unternehmen und Fachbereiche aus, was detaillierte Prognosen erschwert. Daraus lässt sich aber zumindest ableiten, dass die Horrorstory der durch die Digitalisierung ausgelösten Massenarbeitslosigkeit, die die Mittelschicht pulverisiert, in dieser Form wohl nicht eintreten wird. Der Grund: Sie ist eine einfache Fortschreibung einer gegenwärtigen Entwicklung in die Zukunft, unter der Annahme, dass alles andere gleich bleibt. In der Praxis bleibt aber alles andere nicht gleich, und das Beispiel des Onlinehändlers Amazon zeigt, dass selbst eine radikale Automatisierung mit einer stark steigenden Zahl an Arbeitsplätzen einhergehen kann (siehe Infokasten). Zudem wirkt den Jobverlusten durch Automatisierungen ein anderer Prozess entgegen, nämlich der durch den demografischen Wandel hervorgerufene Fachkräftemangel. In immer mehr Branchen fehlen qualifizierte Arbeitskräfte und dieses Problem wird sich in den kommenden Jahren noch massiv verschärfen. Nach einer Prognose des Bundeswirtschaftsministeriums gehen bis 2030 mit der Babyboomer-Generation 5,2 Millionen Arbeitnehmer in Rente, gleichzeitig rücken aber nur 3,9 Millionen Berufseinsteiger nach.

Es ist also wahrscheinlicher, dass durch die Digitalisierung ein länger anhaltender Prozess der Polarisierung und Fragmentierung eintreten wird, in dem sich die Arbeitswelt grundsätzlich wandelt: Viele Jobs werden verloren gehen und gleichzeitig wird sich der Fachkräftemangel verschärfen, da neu geschaffene Arbeitsplätze tendenziell mit höheren Anforderungsprofilen und damit einem kleineren potenziellen Bewerberpool einhergehen werden. So sei „eine Koexistenz von Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit möglich, die bestenfalls mittelfristig aufzulösen ist”, urteilt der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz im Februar 2022 in einem Gutachten, das er im Rahmen einer fortlaufenden Analyse zur „Zukunft der Arbeit in der digitalen Transformation” erstellte.

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Die Mittelschicht muss sich auf sinkende Reallöhne einstellen

Für Deutschlands Mitte könnte sich dadurch eine weitere bedrohliche Entwicklung aufzeigen. „Das wahre Problem der Digitalisierung besteht in einer stärkeren Ungleichheit der Lohn- und Einkommensverteilungen und in sinkenden Reallöhnen in der Mitte des Lohnspektrums”, befürchtet der Ökonom Jens Südekum von der Universität Düsseldorf, der als Mitglied des Beirats das Wirtschaftsministerium berät. Der Grund: Auch der Arbeitsmarkt wird nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage geregelt. Wenn durch die Digitalisierung die Nachfrage nach Arbeitskräften zurückgeht, geschieht genau das, was auch geschieht, wenn die Nachfrage nach einem bestimmten Produkt zurückgeht: Es wird so lange günstiger, bis die Marktteilnehmer es zu einem Preis bekommen, der ihnen angemessen erscheint. Dann steigt die Nachfrage wieder. Ebenso verhält es sich mit der Arbeitskraft: Wenn die Digitalisierung einen Teil der Arbeit substituiert und dadurch die Nachfrage nach Mitarbeitern zurückgeht, wird Arbeit günstiger – so lange, bis Arbeitgeber sie zu einem Preis bekommen, der ihnen angemessen erscheint. Dann steigt die Nachfrage wieder. Die drohende Gefahr durch die Digitalisierung der Arbeitswelt ist also nicht Massenarbeitslosigkeit, sondern ein sinkendes Niveau des Reallohns, des Gehalts unter Berücksichtigung der Inflationsrate.

Jüngste Daten zum tatsächlichen Einsatz von Robotern in der Industrie in Deutschland bestätigen dies: Sie zeigen, dass Automatisierungen zwar die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeiteten Gewerbe reduzierten, nicht aber die Gesamtzahl der Arbeitsplätze. Für jeden Roboter verlor die Industrie durchschnittlich gut zwei Arbeitsplätze. „Im Zeitraum von 1994 bis 2014 wurden rund 131.000 Roboter in Deutschland installiert. Statistisch gesehen führte dies zu einem Rückgang von rund 275.000 Vollzeitjobs in der Industrie”, schrieb Ökonom Südekum, der die entsprechenden Daten mit seinem Team auswertete. „Diese beträchtlichen Verluste wurden jedoch durch Arbeitsplatzgewinne außerhalb des verarbeitenden Gewerbes, vor allem bei wirtschaftsnahen Dienstleistungen, vollständig ausgeglichen.” Allerdings ließ sich auch ein Effekt auf die Löhne feststellen: Während hohe Einkommen stiegen und keine Effekte auf niedrige Einkommen messbar waren, sanken die mittleren Einkommen. „Das Problem der steigenden Roboterisierung zeigte sich also nicht in Form höherer Arbeitslosigkeit, sondern in Form geringerer Löhne”, so Südekum abschließend. „Für das Gros der Industriebeschäftigten haben die Roboter zu negativen Lohn- und Einkommenseffekten geführt und die Lohnungleichheit gesteigert.”

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Es gibt klare Gewinner und klare Verlierer

Die Digitalisierung produziert in der Arbeitswelt also klare Gewinner und klare Verlierer: Die Gewinner sind mobile Hochqualifizierte, deren eigene Schaffenskraft die Arbeit von Software und Robotern ergänzt. Ihr Einkommen wird tendenziell steigen und sich weiter von den mittleren und unteren Einkommensschichten abkoppeln. Die Verlierer sind die Einkommensbezieher der Mittelschicht, deren Arbeit durch Automatisierungen größtenteils ersetzt wird und die ihre Arbeitsplätze höchstens durch Lohnkürzungen und Umschulungen halten können. Damit droht in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nicht nur eine weitere Erosion der Mittelschicht, aus der einige aufsteigen und viele abstürzen werden. Der Prototyp des sicheren Mittelklasse-Jobs, nämlich die Festanstellung mit sozialer Absicherung, könnte insgesamt zum Auslaufmodell werden.

Was bedeutet das alles für die Zukunft der Mittelschicht und damit auch für die zukünftige Stabilität der Bundesrepublik? Zunächst einmal sind all dies nicht Prozesse einer fernen Zukunft. Sie geschehen jetzt gerade, in diesem Moment. Wie bereits seit Tausenden von Jahren ist die Arbeitswelt auch jetzt im Wandel. Ob durch den Einsatz der ersten Maschinen im 18. oder die Nutzung elektrischer Energie im 19. Jahrhundert. Ob durch Computer seit den 1970ern oder durch künstlich intelligente, selbstlernende und vollständig vernetzte Systeme, die jetzt und in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die Arbeitswelt revolutionieren – Arbeit verändert sich und wir werden uns diesen Veränderungen anpassen.

Einzig die Geschwindigkeit der Veränderung hat zugenommen. Ein Auszubildender kann sich heute nicht mehr darauf verlassen, dass es seinen Beruf noch gibt, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Und auch nicht darauf, dass er danach in einen Beruf umschulen wird, dem er dann bis zur Rente nachgehen wird. Schon heute zeigt sich, dass der Schlüssel zu dieser Anpassung Bildung ist. Das Bildungsniveau ist seit den 1990er Jahren in allen Schichten gestiegen, doch in der Mittelschicht ganz besonders: Heute haben 91 Prozent aller Angehörigen der Mittelschicht Abitur, eine abgeschlossene Berufsausbildung, einen Meister oder einen Hochschulabschluss. Seit Mitte der 1990er sind die Chancen, in die Mittelschicht aufzusteigen, für junge Erwachsene zwischen 25 und 35 ohne Abitur oder eine abgeschlossene Berufsausbildung um gewaltige 27 Prozentpunkte gesunken. Gleichzeitig polarisiert sich auch die Mittelschicht selbst: Hochqualifizierte steigen zunehmend in die obere Mitte auf und immer mehr Arbeitnehmer mit niedrigerer Bildung in die untere Mitte ab.

Die Zukunft muss nicht düster sein

Deshalb ist die Gleichung für die Zukunft der deutschen Mittelschicht ganz einfach: Wenn in der Breite der Gesellschaft jene Fähigkeiten vorherrschen, die in der Arbeitswelt benötigt werden, kann sich die Mittelschicht halten. Die Pfeiler dieser Arbeitswelt sind Flexibilität, Mobilität und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Die jüngeren Generationen lernen bereits, unter diesen neuen Bedingungen zu arbeiten. Nun ist es die Aufgabe der Politik, ein Umfeld zu schaffen, das Chancengerechtigkeit unter diesen neuen Bedingungen herstellt, um ein weiteres Auseinanderdriften der oberen und unteren Einkommensschichten zu verhindern. In der Schule müssen die Freude am Lernen und der praktische Bezug zu modernen Technologien ebenso erlernt werden wie mathematische, naturwissenschaftliche oder sprachliche Fähigkeiten. Und im späteren Berufsleben muss jedem Arbeitnehmer, jedem Bürger in Deutschland jederzeit die Möglichkeit offenstehen, sich ohne Angst vor einem Arbeitsplatzverlust weiterzubilden und auch ganz neue Fähigkeiten zu erlernen. Begriffe wie „Bildungsgeld”, „Midlife-Bafög” oder „Weiterbildungsstipendium” müssen in unserem Sprachschatz so normal werden wie „Kindergeld” oder „Steuererhöhung”.

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Denn momentan bedroht nicht nur die schrumpfende Mittelschicht und die sich zuspitzende Ungleichheit zwischen hohen und niedrigen Einkommen den sozialen Zusammenhalt. Was den Übergang in die sogenannte „Industrie 4.0” angeht, ist die Bundesrepublik auch im internationalen Vergleich alles andere als gut aufgestellt. Deutschland agiere „bei diesen Technologien nicht aus der Position des globalen „industry leader”, sondern weist teilweise erhebliche Rückstände zur Weltspitze auf”, urteilten die wissenschaftlichen Berater des Wirtschaftsministeriums Anfang 2022 in ihrer Analyse zur Zukunft der Arbeit. „Somit könnten Weiterentwicklungen bei diesen Technologien durchaus mit Marktanteilsverlusten und entsprechend adversen Arbeitsmarkteffekten einhergehen”. Sprich: Wenn sich nicht bald etwas ändert, spitzt sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter zu.

Wenn es uns aber gelingt, diese Transformation politisch und gesellschaftlich bejahend mitzugehen, dann wirkt sich das nicht nur positiv auf die Mittelschicht und die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands aus. Es kann auch zu einem schöneren, sinnvolleren Arbeitsleben führen. Denn durch den Wegfall monotoner Tätigkeiten entsteht für den Menschen Freiraum für Kreativität und schöpferische Prozesse, die heute entweder gar nicht oder nur zu einem hohen Preis von Maschinen erledigt werden können. Der Arbeitnehmer der Zukunft ist also immer seltener reiner Befehlsempfänger, sondern immer auch Steuerer und Entscheider. Auch das will gelernt sein.