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Soziale Gefahr

Die Inflation zermürbt die Mittelschicht

Berlin / Lesedauer: 5 min

Energie-Krise, steigende Preise, immer mehr Wut bei den Bürgern. Eine breite Mittelschicht hat Deutschland über Jahrzehnte stabil gehalten. Doch jetzt nagt die Inflation an diesem Fundament.
Veröffentlicht:19.07.2022, 05:53

Von:
  • Carsten Korfmacher
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Pandemie, Krieg, Inflation – Deutschland rutscht von einer Krise in die nächste. In einer Serie beschäftigt sich Nordkurier-Reporter Carsten Korfmacher ausführlicher mit der Lage der Mittelschicht in Deutschland. Was ist das überhaupt? Und wie hat sich die Mitte verändert? Welche Folgen haben und hatten Inflation und Corona-Pandemie? Wie hat sich die Mittelschicht in Ostdeutschland entwickelt? Und wohin geht die Reise in der Zukunft?

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Zurzeit nehmen fast alle Menschen in Deutschland ein Schwinden von sicher geglaubten Gewissheiten war – so auch beim sogenannten „Wohlstandsversprechen”. Diese Zusicherung, die der Staat seinen Bürgern macht, lautet grob zusammengefasst: Wer sich ausreichend anstrengt und an die Regeln hält, kann in diesem Land ein Leben in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand führen.

Pandemie, Krieg, Inflation – von Krise zu Krise

Doch das Wohlstandsversprechen ist brüchig geworden. Und zwischen Pandemie, Krieg und Inflation wird dieser Bruch, den viele Bürger schon seit längerer Zeit wahrnehmen, mit erschreckendem Tempo immer sichtbarer. Ob Rentner, Alleinerziehende oder junge Familien: Immer mehr Bürger in Deutschland, und vor allem im Osten der Republik, fühlen sich abgehängt. Und dieses abnehmende Vertrauen in die Gültigkeit des Gesellschaftsvertrages, der in den alten Ländern seit dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahren gilt und in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung gelten sollte, wird zunehmend zu einem gesamtdeutschen Problem.

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Die Vorboten waren schon lange vor Corona sichtbar

Momentan machen viele Bürger das Voranschreiten dieser Entwicklung vor allem an den massiven Preissprüngen bei Lebensmitteln, Energie und anderen Gütern des täglichen Lebens fest. Dabei ist die Inflationsrate – im Mai lag sie in Deutschland nach vorläufigen Zahlen bei 7,9 Prozent – nur die Spitze des Eisbergs. Schon vor der Corona-Pandemie waren die wirtschaftlichen Risse sichtbar: Sparer wurden durch jahrelange Niedrigzinsen regelrecht enteignet und die Immobilienpreise stiegen so rasant an, dass das Eigenheim für die Durchschnittsfamilien der mittleren Einkommensschichten zunehmend unbezahlbar wurde. Der Niedriglohnsektor in Deutschland entwickelte sich zum größten in Westeuropa und vor allem in Ostdeutschland nahm die Zahl der Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen immer weiter zu.

Auch Senioren litten unter der Entwicklung: Die Zahl der älteren Menschen, die von einer Rente unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, wächst seit Jahren unaufhaltsam. Gleichzeitig spüren immer mehr Menschen, dass sie auch in wirtschaftlichen Aufschwungphasen nicht profitieren, weil hohe Gehälter seit Jahrzehnten deutlich stärker steigen als niedrige und mittlere Einkommen. Nun hat durch die anhaltend hohe Inflation die Krise die Mitte der Gesellschaft erreicht. Und an diesem Punkt wird es für den sozialen Zusammenhalt in Deutschland gefährlich.

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Die deutsche Mittelschicht schrumpft seit Jahrzehnten

Was genau versteht man unter „der Mitte”? Nach einer gängigen Definition gehören zur Mittelschicht alle Alleinstehenden mit einem verfügbaren Netto-Einkommen – also abzüglich Steuern und Sozialabgaben und zuzüglich aller Sozialleistungen und weiterer Geldzuflüsse – von 1500 bis 4000 Euro. Bei Paaren mit zwei Kindern wird ein Einkommen von 3000 bis 8000 Euro angesetzt. Innerhalb dieser Spannen bewegen sich immer noch knapp zwei Drittel der Gesellschaft. Damit trägt die Mittelschicht den Großteil der Staatsausgaben, die durch Investitionen in Sicherheit, Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und das Sozialsystem zurück in die Gesellschaft fließen.

Die Mitte sorgt für politische Stabilität und ist sowohl durch ihre Leistungsbereitschaft als auch ihren Konsum für einen Großteil des Wirtschaftswachstums verantwortlich. Zudem ist eine Gesellschaft mit einer breiten Mittelklasse weniger anfällig für hohe Kriminalitätsraten oder politischen Extremismus. Doch seit fast drei Jahrzehnten schrumpft die Mittelschicht in Deutschland – und Corona-Pandemie und Inflation befeuern diese Entwicklung. Aus Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Bertelsmann-Stiftung geht hervor, dass im Jahr 1995 noch 70 Prozent der deutschen Bevölkerung der Mittelschicht angehörten, im Jahr 2018 waren es nur noch 64 Prozent.

Hälfte aller Deutschen ist arm oder von Armut bedroht

Nachdem diese durch die Hartz-Reformen beflügelte Dynamik nach 2005 etwas abnahm, droht sie sich nun wieder zu beschleunigen. Zwischen 2014 und 2017, also noch deutlich vor der Pandemie, sind laut Bertelsmann-Stiftung22 Prozent der Personen im erwerbsfähigen Alter aus der Mittelschicht in die untere Einkommensschicht abgestürzt, so dass arme und von Armut bedrohte Haushalte mittlerweile fast ein Drittel der Gesellschaft, 29 Prozent, ausmachen. In der Pandemie haben acht Prozent der Beschäftigten in den mittleren Einkommensklassen ihre Jobs verloren, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung feststellte.

Und steigende Preise in allen Lebensbereichen sorgen nun dafür, dass das untere Drittel der mittleren Einkommen, das 21 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, zwar rechnerisch noch zur Mittelschicht gehört, aber längst ebenfalls von Armut bedroht ist – und somit kaum noch seiner stabilisierenden Funktion innerhalb der Gesellschaft nachkommen kann. Somit ist nicht nur die Hälfte der deutschen Bevölkerung de facto arm oder von Armut bedroht. Die Entwicklung könnte sich außerdem noch dramatisch verschärfen. Denn in der abstiegsbedrohten Mittelschicht finden sich neben Rentnern und Ostdeutschen vor allem junge Erwerbstätige wieder.

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