Protesttag
In deutschen Kliniken herrscht „Alarmstufe rot“
Berlin / Lesedauer: 4 min

Andreas Becker
Es war am frühen Dienstagabend, als eine durchaus bemerkenswerte Mail aus dem dem Bundesgesundheitsministerium in die bundesdeutschen Redaktionsstuben flatterte. „Um die Proteste der Deutschen Krankenhausgesellschaft besser einordnen zu können, schicken wir Ihnen ein Faktenpapier zur Situation der Krankenhäuser“, hieß es dort in einem kurzen Anschreiben - anschließend folgten drei eng beschriebene Seiten, in denen das Haus von Minister Karl Lauterbach die Notwendigkeit der anstehenden Krankenhausreform untermauerte.
Was die Krankenhausgesellschaft noch vor der Reform fordert
Fast wirkte das Schreiben am Vorabend des bundesweiten Protesttages der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) so, als wolle man im Gesundheitsministerium den Unmut und die Wut in den Kliniken ein wenig abmildern. Dass der Frust, die Enttäuschung und die Verzweiflung in den Krankenhäusern aber enormes Konfliktpotenzial beeinhalten, zeigte sich dann am Mittwochmittag auf historischen Grund am Fuße des Brandenburger Tores. Klinikdelegationen aus ganz Deutschland pfiffen, johlten, buhten, klatschen und skandierten - ließen ihre Emotionen raus und gaben ein lautstarkes Signal in Richtung Bundesregierung, Bundestag und namentlich an Karl Lauterbach.
„Alarmstufe rot - stoppt das Krankenhaussterben“, so das Motto des Protestes. „Die finanzielle Situation der Krankenhäuser ist dramatisch, und sie gefährdet die Versorgungssicherheit für die Bevölkerung“, betonte der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, bei seiner Rede vor den Demonstranten. „Deshalb müssen wir laut sein, damit die Politik uns hört.“
Die Krankenhausgesellschaft fordert einen „Inflationsausgleich“ noch vor einer geplanten Reform zur generellen Neuaufstellung der Krankenhäuser in Deutschland. Gesetzlich sei es Kliniken nicht möglich, ihre Preise an gestiegene Kosten anzupassen, sagte Gaß. Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts sorgen sich 70 Prozent der Kliniken ernsthaft um ihre Existenz. Bis Jahresende seien inflationsbedingte Defizite von zehn Milliarden Euro zu verkraften.
Wie die Unionsfraktion kurzfristig helfen will
Gaß stellte klar, dass die Kliniken nicht gegen die von Bund und Ländern initiierte Krankenhausreform seien. „Wir sind aber gegen einen kalten Strukturwandel. Und da können und wollen wir es nicht hinnehmen, wenn Karl Lauterbach heute Morgen in einem Interview lapidar verkündet hat, dass es ,schade' sei, wenn vielleicht ein Viertel der Kliniken Insolvenz anmelden würden“, rief der DKG-Chef über den Pariser Platz. Aktuell haben im ersten Halbjahr 2023 bereits 50 Klinikstandorte Insolvenz angemeldet, teilte die Krankenhausgesellschaft mit.
Es müsse allen klar sein, dass künftig immer weniger junge Mitarbeiter in den Kliniken immer mehr ältere Menschen versorgen müssten. „Deshalb wollen wir bei der Ambulantisierung, der Spezialisierung und bei den Fusionen von Kliniken und Abteilungen mithelfen - aber all das mit einer fairen Finanzierung“, meinte Gaß. Bevor die Krankenhausreform ab dem Jahr 2025 greifen würde, benötigten die Kliniken einen Rettungsring.
Wie der konkret ausgestattet sein könnte, sagte Sepp Müller, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er war aus dem benachbarten Bundestag hinüber zum Brandenburger Tor geeilt - und hatte kurzfristig um Rederecht gebeten. „Die Krankenhäuser brauchen eine Brückenfinanzierung. 3,5 Milliarden Euro sind von der Energiepreisbremse noch übrig - das Geld könnte man schnell verwenden“, so Müller. Einen entsprechenden Antrag wollten CDU/CSU im Parlament einbringen.
Gesundheitsministerium: Länder sind schuld an maroder Substanz
Aus Mecklenburg-Vorpommern ‐ auch dort fand eine regionale Protestveranstaltung statt ‐ kamen Forderungen nach einem „Rettungsfonds“ (Ex-CDU-Gesundheitsminister Harry Glawe) beziehungsweise einem „Hilfsfonds“ (Thomas de Jesus Fernandes, AfD-Landtagsabgeordneter).
Beim Thema Geld setzte auch das „Faktenpapier“ aus dem Bundesgesundheitsministerium an. „Zur finanziellen Unterstützung aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie haben Kliniken von März 2020 bis Juni 2022 Versorgungsaufschläge und Ausgleichszahlungen in Höhe von rund 21,5 Milliarden Euro erhalten“, hieß es dort.
Und weiter: „Auch die Krankenhäuser profitieren von den Energiepreisbremsen. So sind für die Krankenhäuser ‐ unabhängig von ihrem tatsächlichen Verbrauch für Gas und Fernwärme ‐ umfangreiche Entlastungen zu günstigeren Garantiepreisen vorgesehen.“ Zudem sei für zugelassene Krankenhäuser ein ergänzender Hilfsfonds eingerichtet worden, aus dem die Krankenhäuser im Zeitraum vom 1. Oktober 2022 bis zum 30. April 2024 weitere Erstattungen aus Mitteln des Wirtschaftsstabilisierungsfonds von bis zu 6 Milliarden Euro erhalten könnten.
Im Schreiben aus dem Lauterbach-Ministerium wurde aber auch unverhohlen Kritik an den Bundesländern geübt. „Die Defizite der Krankenhäuser liegen in erster Linie daran, dass die Fallzahlen nach der Corona-Pandemie deutlich gesunken sind. Dieser Trend wird anhalten, weil ein immer größerer Anteil von Behandlungen ambulant gemacht werden kann. Die Investitionskosten der Krankenhäuser müssen die Länder übernehmen. Seit mehr als zehn Jahren bleiben die Länder die Hälfte der notwendigen Investitionskosten schuldig. Die Substanz vieler Krankenhäuser ist daher marode."