Baustelle Deutschland
So will Karl Lauterbach das Gesundheitssystem erneuern
Politik / Lesedauer: 6 min

Andreas Becker
Hand aufs Herz: Wer hätte sich vor Kurzem vorstellen können, dass Krankenhäuser pleitegehen können? Dieser Gedanke ist über Jahrzehnte undenkbar gewesen. Doch nicht nur am deutschen Krankenhauswesen, am gesamten deutschen Gesundheitssystem, nagt der Zahn der Zeit. Klinikinsolvenzen, galoppierende Inflation, explodierende Energiepreise, massiver Fachkräftemangel, medizinisch–technische Rückstände, mangelhafte Digitalisierung — es knirscht in Deutschland mächtig in einem System, das eigentlich immer weltweit als führend galt.

Mehr Klinikinsolvenzen als jemals zuvor
Allein ein Blick auf die Zahl der Krankenhausinsolvenzen lässt Patienten, Ärzte, Krankenschwestern und jetzt offenbar auch die Politik aufhorchen – besser gesagt: aufschrecken. Die Zahl der Insolvenzen von Kliniken in Deutschland ist in diesem Jahr sprunghaft gestiegen. Allein seit Mai haben laut Deutscher Krankenhausgesellschaft ein Dutzend Kliniken einen entsprechenden Antrag gestellt.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wurden in den Monaten Januar bis April 2023 zudem acht Insolvenzverfahren von Krankenhäusern eröffnet. Zum Vergleich: Für das gesamte Jahr 2022 weisen die Statistiker lediglich zehn Klinikpleiten aus, 2021 waren es vier.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagte Mitte August, dass es absehbar sei, dass 20 bis 25 Prozent der Krankenhäuser von Insolvenz bedroht seien. Für den SPD-Politiker ist klar: Kliniken würden mit oder ohne der von ihm vorangetriebenen Krankenhausreform sterben.
Seit Monaten doktern Bundes- und Landesgesundheitsminister an der „Revolution“ des deutschen Krankenhauswesens herum, wie Lauterbach die Krankenhausreform in gewohnt anschaulicher Art bezeichnet hat.
Dem Sozialdemokraten geht es vor allem um eine zuverlässige, flächendeckende Versorgung und um eine bessere medizinische Behandlung bei schweren Notfällen. So soll etwa die Behandlung von Schlaganfällen grundsätzlich nur dort stattfinden, wo auf eine geeignete Spezialeinheit, eine sogenannte „Stroke Unit“, zurückgegriffen werden kann.
Transparenzgesetz von Lauterbach kommt
Und noch etwas steht ganz oben auf der Agenda des Bundesgesundheitsministers: offene und frei zugängliche Informationen für Bürger und Patienten. Konkret: Mit dem Krankenhaustransparenzgesetz will Lauterbach die geplante Krankenhausreform flankieren.

Baustelle Deutschland
„Irgendetwas stimmt hier nicht“: Dieses Gefühl hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren festgesetzt. Nach knapp zwei Jahren Ampel-Regierung, nach Jahren der Krise durch Pandemie, Krieg und Inflation, ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wie ist es um Deutschland derzeit bestellt? Um diese Frage zu beantworten, hat der Nordkurier die 13 wichtigsten Aspekte des politischen Lebens in der Bundesrepublik unter die Lupe genommen. Ob es um Wirtschaft, Bildung, Gesundheit, Sozialstaat, Energiepolitik oder Kriminalität geht: Der Nordkurier legt die Probleme des Landes knallhart offen – und wagt dort, wo es angebracht ist, auch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft.
Teil 1: Deutschlands gefährliche Wohlstandsillusion
Teil 2: Das Dilemma der deutschen Einwanderungspolitik
Teil 3: Warum der Sozialstaat neu gedacht werden muss
Teil 4: Gesundheitswesen auf dem Krankenbett
Das Gesetz ist Basis für die geplante Veröffentlichung von Struktur– und Leistungsdaten der Krankenhäuser in Deutschland. Patienten sollen erkennen können, welches Krankenhaus in ihrer Nähe welche Leistungen anbietet, und wie diese Klinik im Hinblick auf Qualität sowie ärztliche und pflegerische Personalausstattung abschneidet.
Dass die Länder sich energisch gegen eine solche Transparenz wehren, juckt den Bundesgesundheitsminister wenig. Er sieht die Transparenz als unabdingbar im bisherigen undurchsichtigen Dschungel von medizinischen Leistungen und Abrechnungen.
Klare Ziele müssen vorgegeben werden
Der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende der Universitätsmedizin Essen, Jochen A. Werner, weiß um die Notwendigkeit der Reform. „Die Krankenhausreform ist lange überfällig und auf keinen Fall mehr auszusetzen. Dennoch darf sie nicht losgelöst von all den anderen notwendigen Änderungsschritten im Gesundheitswesen gesehen werden“, so Werner. „Mit tatsächlicher Einführung der Digitalisierung, mit Nutzung des Potenzials Künstlicher Intelligenz, werden die heute nebeneinander laufenden Einheiten durchlässiger, Daten werden fließen, Menschen werden in diverser Hinsicht davon profitieren, administrativ, in der Diagnostik und Therapie und bis in die Versorgung alter Menschen“, mahnte Werner.
Deshalb brauche die jetzt angestoßene Krankenhausreform klare Ziele mit einer definierten Zeitschiene, Verlässlichkeit und Planbarkeit. Nur so könne ein gewisses Vertrauen für das Projekt wachsen, so Werner. „Was aktuell droht, ist eine kalte Marktbereinigung über ungeordnete Krankenhausinsolvenzen. Was wir nicht brauchen, sind weitere vollmundige Versprechungen zu Revolutionen und anderen Buzzwords“, so der Professor.
Nötig sei eine enge Absprache mit den Ländern, wie beispielsweise in Nordrhein–Westfalen, wo der Landesgesundheitsminister erkennbar aufgebrochen sei und für die Krankenhausreform einen relevanten Geldbetrag freigegeben habe. Für Werner birgt die Umsetzung der Krankenhausreform zudem die Chance, als Blaupause für weitere relevante Strukturierungen im Föderalismus zu dienen.
KI soll mehr in Krankenhäuser eingebunden werden
Allerdings ist die sich in Aufruhr und Auflösung befindliche Krankenhauslandschaft nur eine der Baustellen im Gesundheitswesen. Werner diagnostiziert Grundsätzliches: „Zuallererst das Festhalten am Vertrauten mit Angst vor Veränderung — und dies obgleich seit vielen Jahren absolut klar ist, dass wir es mit einem unausweichlichen Mangel an Pflegekräften zu tun haben, dass wir bei der Digitalisierung weit abgeschlagen sind und auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen extreme Probleme haben.“
Der Staat habe es über die letzten 30 Jahre versäumt, Deutschland zukunftsfähig aufzustellen. Lobbyismus, Föderalismus und Besitzstandswahrung hätten vor allem im Gesundheitswesen ganze Arbeit geleistet. Das Wohlfühlen im Wohlstand habe den notwendigen Reformen entgegengestanden, legt Werner den Finger in die Wunde.
Der Ärztliche Direktor weiter: „Eskaliert wird die unterlassene Entschiedenheit zur Veränderung nun auch noch durch den wie eine Lawine auf uns zulaufenden demografischen Wandel, der nicht mehr aufzuhalten ist. Die unausweichlichen Schritte erfordern eine erhebliche Finanzierungsinitiative im Gesundheitswesen, ohne die eine volkswirtschaftliche wie auch humane Krise nicht mehr aufzuhalten sein werden.“
Elektronische Patientenakte gefordert
Vor diesem Hintergrund brauche es in Deutschland eine ehrliche Bereitschaft zum Eingeständnis der zuvor genannten Mängel, einschließlich des Bewusstseins, dass die so überfällige Transformation des Gesundheitswesens nur über ein Tal von Anstrengung und Verzicht zu erreichen sei. Neben dieser Bereitschaft und dem Mut zur Umsetzung brauche es ausreichend Finanzmittel und eine verbindliche Digitalstrategie des Bundes über die nächsten zehn Jahre — beides Faktoren, die aktuell nicht im Entferntesten erkennbar seien, so Werner.
„Und dann muss es zwingend weiter in die datenbasierte Medizin gehen, in die verpflichtende elektronische Patientenakte und eine Reihe weiterer Maßnahmen. Wir brauchen eine General-Überholung des gesamten Gesundheitswesens, weil die aktuellen und zukünftigen Anforderungen mit dem gegenwärtigen analogen System nicht mehr zu beherrschen sind, die medizinische Versorgungsqualität abnehmen wird und die Schere Richtung Zwei– oder Drei–Klassen–Medizin immer weiter aufgeht.“
Trotz all dieser Mängel und den damit einhergehenden Forderungen formuliert Werner zumindest im Hinblick auf die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens einen zarten Hoffnungsschimmer: „Bei allem Erwähnten wird das Miteinander von Mensch und Technik zum Game–Changer, hoffentlich auch in Deutschland.“
Im nächsten Teil: Abgehängt – Wie die Politik den ländlichen Raum einfach vergisst.