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Auto–Attacke

Wegweisendes Urteil: „Reichsbürger“ muss in Haft

Stuttgart / Lesedauer: 4 min

Kurz vor dem Urteil will der angeklagte „Reichsbürger“ im Saal Qigong-Übungen zeigen. Über sein Opfer verliert er kein Wort. Für die Bundesanwaltschaft ist das Urteil „wegweisend“ im Umgang mit der Szene.
Veröffentlicht:24.03.2023, 15:46

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Nach einer Auto–Attacke auf einen Polizisten muss ein „Reichsbürger“ wegen versuchten Mordes ins Gefängnis. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte den 62–Jährigen am Freitag zu zehn Jahren Haft. Außerdem muss der Mann dem Polizisten, den er damals schwer verletzt hatte, ein Schmerzensgeld von 30.000 Euro bezahlen und nach der Haftentlassung für fünf Jahre seinen Führerschein abgeben.

Die Richter sahen es als erwiesen an, dass der Täter auch aus seiner Ideologie heraus, nach der das Gesetz für ihn nicht gelte, gehandelt hatte. Das Urteil fällt nur zwei Tage nach einer Razzia in der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, bei der ein Polizist angeschossen wurde.

„Wenn man seine eigene Fantasierechtsordnung über das Leben anderer Menschen stellt, dann ist das ein niederer Beweggrund“, sagte Richter Roderich Martis in seiner Urteilsbegründung. Der Deutsche war im Februar 2022 zunächst vor mehreren Verkehrskontrollen geflohen und steuerte dann auf den Polizisten zu. Er erfasste diesen mit seinem Wagen, fuhr mehrere Meter mit seinem auf der Motorhaube liegenden Opfer weiter, schleuderte den Mann mit einer Lenkbewegung zu Boden und fuhr davon. Der Polizist erlitt schwere Kopfverletzungen und leidet bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er ist dienstunfähig und es ist nach Einschätzung der Experten nicht sicher, ob er je wieder arbeiten kann. Und wenn, dann sehr wahrscheinlich nicht mehr im Streifendienst, den er so geliebt habe, wie Martis schildert.

Razzia gegen „Reichsbürger“ in mehreren Bundesländern

Der nun verurteilte Schreiner aus Efringen–Kirchen ist der erste sogenannte Reichsbürger, der von der Bundesanwaltschaft vor Gericht angeklagt worden ist. Am Mittwoch war bei der Razzia gegen die Szene, die in mehreren Bundesländern stattgefunden hatte, eine Durchsuchung in Reutlingen eskaliert — auch hier wurde ein Polizist verletzt. Ein mutmaßlicher „Reichsbürger“ schoss auf den SEK–Beamten und verletzte diesen am Arm.

Baden–Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) schilderte später, in dem Gebäudekomplex in Reutlingen sei ein erschreckendes und perverses Waffenarsenal gefunden worden. Strobl berichtete von 3800 Menschen, die in Baden–Württemberg der „Reichsbürger“-Szene zugerechnet würden. Diese sei sehr heterogen und zeichne sich durch eine hohe Waffenaffinität aus. Das Urteil sei „richtig und wichtig und ein klares Zeichen für unsere Demokratie“, teilte Strobl mit. Die Szene der „Reichsbürger bezeichnete er als ein „staatsfeindliches, brandgefährliches und vor allem gewaltbereites Milieu“.

Der schnelle Weg ins „Reichsbürger“-Milieu

Der Weg des nun verurteilten 62–Jährigen zeigt eindrücklich, wie ein Mensch abrutschen kann in dieses Milieu. Bis 2017 war er unauffällig, arbeitete als Schreiner, ging in einen Musikverein, fiel polizeilich nie auf. Doch innerhalb weniger Jahre habe sich der Mann radikalisiert, so schildert es Richter Martis. 2019 gab er seinen Personalausweis ab, gab an verschiedenen Behörden an, er sei nun Staatsbürger des Großherzogtums Baden. Den deutschen Staat gebe es nicht, Gesetze würden für ihn nicht gelten. Auch Bußgelder für Ordnungswidrigkeiten zahlte der Schreiner nicht mehr.

Der 62–Jährige schilderte noch kurz vor dem Urteil seine Sicht der Dinge, er könne sich an die Geschehnisse in der Nacht nicht erinnern. Nur an die Schüsse der Polizisten auf seinen Wagen habe er „blitzartige“ Erinnerungen, er sei panisch gewesen. Waffen habe er nie gehabt und sei niemals gewalttätig gegen Menschen geworden. Zwei Armbrüste, die bei ihm gefunden wurden, habe er zum Bogenschießen nutzen wollen für eine „mentale Erweiterung“. Um den Richtern das zu präsentieren, wollte er eine Qigong-Übung im Saal vorführen.

Oberstaatsanwältin sieht wegweisendes Urteil

Aber das sieht das Gericht ganz anders: Im Frühjahr 2020 bestellte der Mann eine Schreckschusswaffe, die er nie bekam. Geliefert wurden hingegen Messer, eine Jagdspitze, zehn funktionstüchtige Patronen für eine Pistole und die beiden Armbrüste samt Pfeilen. „Das sind alles Dinge, die braucht man nicht für Entspannungsübungen“, sagte der Richter. Im selben Jahr trat der Schreiner aus dem Musikverein aus, verlor den Kontakt zu Kollegen, bezeichnete Politiker als Terroristen und Polizisten als „Drecksbullen“ und „Ratten“. Als er während der Corona–Pandemie ohne Maske einkaufen wollte und eine Verkäuferin ihm dies verwehrte, trat er ihr gegen den Oberschenkel.

Der 62–Jährige schüttelt zu den Ausführungen immer nur den Kopf, wirkt aufgelöst, spricht seinen Anwalt an. Er kann noch Revision einlegen. Das Gericht folgte mit seinem Urteil der Bundesanwaltschaft und der Nebenklage. Für Karin Weingast, Oberstaatsanwältin am Bundesgerichtshof, ist das Urteil „wegweisend im Umgang mit Straftaten mit sogenannten Reichsbürgern“.

Der Vertreter der Nebenklage, Patrick Steiger, sagte, für seinen Mandanten sei das Urteil sehr wichtig. Es gehe ihm nicht gut. „Ich hoffe, dass für ihn nun wieder Ruhe einkehrt, dass er sich auf sein zukünftiges Leben konzentrieren kann.“