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Nach Deutscher Einheit

So groß ist die Schere noch immer zwischen Ost und West

Berlin / Lesedauer: 5 min

Der Ostbeauftragte bezeichnet die Deutsche Einheit als „Glücksfall der Geschichte“ – doch auch 33 Jahre danach unterscheiden sich Lebensrealitäten und Lebensgefühle.
Veröffentlicht:27.09.2023, 18:01

Von:
  • Andreas Becker
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So ein bisschen innerlich zerrissen war er doch – der Ostbeauftragte der Bundesregierung bei der Vorstellung seines Jahresberichts zum Stand der Deutschen Einheit. Auf der einen Seite verkündete Carsten Schneider mit sicht- und hörbarer Zufriedenheit und auch einer Portion Enthusiasmus, dass es 33 Jahre nach der deutschen Vereinigung große Fortschritte beim Zusammenwachsen des Landes gebe. Aber genauso gebe es auch weiteren Handlungsbedarf, räumte Schneider mit Sorgenfalten auf der Stirn ein.

Mehr Unterschiede zwischen Stadt und Land als zwischen Ost und West

„Strukturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland konnten abgebaut werden, teilweise sind sie verschwunden“, sagte der Ostbeauftragte. „Dennoch bewerten viele Ost- und Westdeutsche die Lage des Landes unterschiedlich.“ Brüche und Konflikte würden Regierung und Bürger noch lange beschäftigen. Es seien halt auch historisch bedingt unterschiedliche Lebensrealitäten, in denen sich Ost- und Westdeutsche bewegen würden.

„Fakt ist, dass ein höherer Anteil von Menschen in ländlichen Regionen in Ostdeutschland in einem Umfeld leben, das von einer stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerung, von anderen Familienstrukturen und von einer geringeren Ausstattung mit Einrichtungen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge geprägt ist“, heißt es im Bericht. Schneider sprach in dem Zusammenhang „schon von einem Gefühl, dass man abgehängt sei“.

Die Herausforderungen, Bedingungen und Bedürfnisse in ländlichen Räumen im Osten seien laut Bericht insbesondere aufgrund ihrer kleinteiligen und zerstreuten Strukturen oftmals den ländlichen Räumen im Westen näher als den urbanen ostdeutschen Ballungsräumen. Motto: Es müsse nicht mehr in Ost-West-Dimensionen gedacht werden, sondern eher in Stadt-Land-Differenzen.

AfD ist laut Schneider kein ostdeutsches Problem

Unabhängig davon weiß der Ostbeauftragte natürlich, dass ganz spezielle Probleme existieren, die auch heute noch prägend für die neuen Bundesländern seien. „Wir haben mit der Abwanderung einer fast ganzen Generation ein demografisches Problem und damit auch mit der Fachkräftesicherung. Das sind die größten Herausforderungen und sie werden immer herausfordernder“, betonte Schneider. Hinzu komme die Lohnlücke – „der Ostdeutsche hat das Gefühl, er bekommt nicht seinen gerechten Teil“. Positiv dagegen sei, dass sich die Renten angeglichen hätten.

Dass es neben den realen Verhältnissen auch ein bestimmtes Lebensgefühl der Ostdeutschen gebe, machte Schneider deutlich. Es sei im Osten sehr wichtig, mit der Sprache sensibel umzugehen. Der Ostdeutsche könne halt auch die Nachricht in der Nachricht verstehen. Das Gefühl, dass ihm etwas aufgedrängt werde, möge der Ostdeutsche gar nicht. Vor diesem Hintergrund räumte der Ostbeauftragte selbstkritisch ein, dass beispielsweise gerade zu Beginn der Debatte um den Bau eines LNG-Terminals auf Rügen nicht optimal mit den betroffenen Bürgern vor Ort kommuniziert worden sei.

Schneider hoffte mit Blick auf die im nächsten Jahr in Ostdeutschland stattfindenden Landtagswahlen, dass sich die „Mitte der Gesellschaft politisiert und stärker zeigt – so wie jetzt bei der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen, als ein AfD-Kandidat nicht gewählt worden ist“. Eines machte Schneider aber auch deutlich: „Die AfD ist kein ostdeutsches Problem.“

Linke kritisieren Bundesregierungen scharf für Ost-West-Unterschiede

Auf massiven Widerstand stießen die Aussagen und Einschätzungen Schneiders bei der Linkspartei. „Alle Bundesregierungen der letzten drei Jahrzehnte haben es nicht geschafft, die Schere zwischen Ost und West zu schließen. In vielen Lebensbereichen sind Ostdeutsche benachteiligt und schauen deshalb besorgt in die Zukunft. Sie verdienen weniger, kriegen weniger Rente und haben geringere Vermögen", kritisierten Peter Ritter und Vanessa Müller, Landesvorsitzende der Linken in Mecklenburg-Vorpommern. Dadurch seien die Auswirkungen der deutlichen Preissteigerungen auf die Lebenssituation unverkennbar höher. Wenn die Bundesregierung weiter die Augen davor verschließe, werde die AfD weiter an Zustimmung gewinnen.

Ritter und Müller forderten eine Lohnoffensive Ost durch mehr Tarifbindung und flächendeckende Tarifverträge, um die Löhne in den neuen Ländern bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode im Jahr 2025 zu 100 Prozent an das Westniveau anzugleichen.

Dietmar Bartsch, Bundestagsabgeordneter der Linken aus Mecklenburg-Vorpommern, ergänzte: „Die Unterschiede zwischen Ost und West sind wie einbetoniert. Die Ampel tut objektiv alles dafür, dass Wut und Unzufriedenheit im Osten anwachsen.“ Bartsch nannte Schneiders Bericht „ein bitteres Zwischenzeugnis für die Arbeit der Bundesregierung“ und vergab die Note „mangelhaft“.

Kein Wort zu Einkommens- und Vermögensschere zwischen Ost und West

Sepp Müller, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Abgeordneter aus Sachsen-Anhalt, bezeichnete den „Bericht zur Deutschen Einheit als eine verpasste Chance, die positiven Entwicklungen in Ostdeutschland hervorzuheben. Andererseits fehlen in dem Bericht auch Impulse für die Regionen, die sich im Strukturwandel befinden, oder Initiativen für eine bessere ärztliche Versorgung auf dem Land“. Gänzlich unerwähnt bleibe die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Ost und West.

Zwar gehe die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands nach Einschätzung des Unionspolitikers in die richtige Richtung, dennoch sei viel Luft nach oben. Das zu verändern bleibe eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – eine Aufgabe von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften, stellte Müller fest.

„Der wirtschaftliche Aufholprozess kommt voran, gleichzeitig ist die Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen von Wirtschaft und Öffentlichem Dienst noch ausbaufähig“, meinte Torsten Herbst, Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion. „Ostdeutschland kann zur Chancenregion werden. Die Ansiedlung großer Chiphersteller in Dresden und Magdeburg sowie die Tesla-Fabrik in Grünheide belegen dies. Es braucht in Zukunft nicht mehr Subventionen für Ostdeutschland, sondern mehr Freiheiten und schnellere Genehmigungen für Industrieansiedlungen und Erweiterungsinvestitionen“, sagte der Liberale. Nur mit einer starken wirtschaftlichen Dynamik könne der Aufholprozess der ostdeutschen Länder weiter beschleunigt werden.