Energiesicherheit
Streitthema Strom: Wie funktioniert das eigentlich alles?
Berlin / Lesedauer: 8 min

Carsten Korfmacher
Die Bundesrepublik hat seit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke mehr Strom importiert als exportiert. Steigen dadurch die Preise für Wirtschaft und Verbraucher?
Nein, einen Preis–Automatismus gibt es bei Stromimporten nicht. Prinzipiell soll es so funktionieren: Strom wird dann importiert, wenn er am europäischen Markt günstig zu haben ist, und dann exportiert, wenn er am Markt teuer ist. Tendenziell ist der Strom im Sommer am günstigsten, daher auch die vermehrten Importe nach den AKW–Abschaltungen am 15. April. In diesen Monaten wird viel Strom importiert, weil die Produktionskosten die Importkosten übersteigen.
Durch dieses Ausbalancieren zwischen Import und Produktion sind die Strompreise generell niedriger als bei einer vollständig heimischen Stromproduktion. Generell spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle: Wenn viel Windenergie zur Verfügung steht, entsteht Überschussstrom, der zu niedrigen Preisen exportiert wird, ebenso muss in wind– und sonnenarmen Zeiten entweder teurer Strom importiert oder selbst produziert werden.
Kann Deutschland seinen Strombedarf alleine decken?
Prinzipiell ja. Die Bundesrepublik hat momentan einen jährlichen Strombedarf von rund 500 Terawattstunden. Im vergangenen Jahr wurden 509,4 Terawattstunden heimisch produziert und ins Netz eingespeist. Tatsächlich war die Bundesrepublik in den vergangenen zwei Jahrzehnten in keinem Jahr Nettoimporteur von Strom, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen.
Im Jahr 2002 wurde zuletzt mehr Strom exportiert als importiert, danach war es grundsätzlich umgekehrt. In den Jahren 2015 bis 2018 war der Exportsaldo mit jeweils mehr als 50 Terawattstunden ausgesprochen hoch, danach sank er auf um die 20 Terawattstunden. Im vergangenen Jahr lag er bei 27,5 Terawattstunden. Daraus folgt: Deutschland könnte seinen Strombedarf mit einem Mix aus erneuerbaren und konventionellen Energien alleine decken.
„Aufgrund der hohen Preise für Erdgas und Steinkohle einerseits und der hohen CO2–Zertifikatskosten andererseits ist das aber gerade nicht rentabel“, sagte Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung „Energie, Verkehr und Umwelt“ im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dem Nordkurier.
Warum importiert die Bundesrepublik Atomstrom aus Frankreich, obwohl gerade erst die letzten drei deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet wurden?
Diese Frage hat eine wirtschaftliche und eine ideologische Dimension. Wirtschaftlich betrachtet ergibt es Sinn, gerade in den Sommermonaten französischen Atomstrom zu importieren. Kernkraftwerke lassen sich nur schwierig drosseln und produzieren deshalb praktisch ungebremst weiter — auch im Sommer, wenn weniger Strom benötigt wird als im Winter. Zusätzlich wird im Sommer viel Solarstrom produziert. Die Folge: Das Angebot steigt bei sinkender Nachfrage und an den Strombörsen entstehen Dumpingpreise. In dieser Zeit kauft die Bundesrepublik Strom netto ein, weil das günstiger ist, als beispielsweise die eigenen Kohlekraftwerke laufen zu lassen. Konventionelle Kraftwerke gehen in dieser Zeit üblicherweise in Revision.
Den zweiten Teil der Frage beantwortet dies allerdings nicht: Warum importiert die Bundesrepublik trotz ihrer ansonsten rigiden Anti–Atom–Politik überhaupt Strom aus Kernenergie? Nicht nur in Deutschland nimmt die Kritik an dieser Haltung zu. „Es ist ein Widerspruch, einerseits massiv französischen Atomstrom zu importieren und andererseits jeden Text und jede Gesetzgebung in der EU abzulehnen, die den Mehrwert dieser kohlenstoffarmen Energieform anerkennt“, sagte zuletzt Frankreichs Energieministerin Agnès Pannier–Runacher in einem Interview mit dem Handelsblatt. „Deutschland riskiert, mehr und mehr von der Atomenergie seiner Nachbarn abhängig zu werden.“
Pannier–Runacher spricht zudem ein Problem an, das in Deutschland etwas stiefmütterlich behandelt wird: Da die Verfügbarkeit von Wind und Sonne je nach Wetterlage variiere, seien „steuerbare Grundkapazitäten nötig, um Schwankungen von Angebot und Nachfrage auszugleichen“. Frankreich nutze Atomkraft, um die Leistung abzusichern. In Deutschland geschieht dies derzeit hauptsächlich durch Kohle, zukünftig sollen wasserstofffähige Gaskraftwerke diese Rolle übernehmen. Wasserstoffgas hat den Vorteil, dass es Energie lange speichern kann. Aber es bringt seine eigenen Probleme mit sich, zum Beispiel einen sehr hohen Preis. Zudem stellt sich die Frage, ob es genug Investitionsanreize für die Privatwirtschaft gibt, wenn die Kraftwerke als Lückenfüller lediglich zur Absicherung der Versorgung dienen sollen.
In der öffentlichen Debatte macht derzeit die Behauptung die Runde, dass 82 Prozent des deutschen Strombedarfs durch andere europäische Länder gedeckt werden müsse. Stimmt das?
Nein. Tatsächlich gehen die „82 Prozent“ auf eine Berechnung der Bild–Zeitung zurück. Die Zeitung hat auf Basis von Zahlen des Fraunhofer–Instituts für Solare Energiesysteme ISE errechnet, dass Deutschland seit der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke an 82 Prozent der Tage mehr Strom importierte als exportierte. AfD–Bundestagsfraktionschefin Alice Weidel machte daraus die folgende Behauptung: „Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken“. Diese These wurde dann vielfach weiterverbreitet.
Diese These von Alice Weidel wurde
dann vielfach weiterverbreitet.
Allerdings ist dies offensichtlich Unsinn."
Allerdings ist dies offensichtlich Unsinn, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Bauer Müller braucht 1000 Eier pro Jahr. Seine Hennen produzieren 800, er exportiert 50 und importiert 250. Nehmen wir an, dass Bauer Müller an 82 Prozent aller Tage mehr Eier importiert als er exportiert. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass er 82 Prozent seines Eierbedarfs importieren musste — tatsächlich hat er nur 250 Eier, also 25 Prozent seines Eierbedarfs, importiert.
Ist denn die Berechnung der Bild–Zeitung richtig?
Sie ist richtig, aber irreführend. Erstens lässt die Zahl der Tage, an denen mehr importiert als exportiert wurde, keine Rückschlüsse auf die Handelsbilanz zu, also auf den Unterschied in Menge und Preis zwischen Importen und Exporten. Mit anderen Worten: Es ist möglich, an 82 Prozent der Tage mehr zu importieren als zu exportieren, an den übrigen 18 Prozent der Tage aber so viel zu exportieren, dass unter dem Strich mehr exportiert wurde als importiert.
Und zweitens lässt sich aus der Tatsache, dass Bauer Müller 250 Eier importiert, nicht ableiten, dass er keine andere Wahl hat, als 250 Eier zu importieren. Vielleicht importiert er die 250 Eier nur, weil es Zeiten im Jahr gibt, in denen es günstiger ist, Eier zu importieren als zu produzieren. Er könnte, wenn er wollte, 1000 Eier selbst herstellen. Doch dann würden die Kosten steigen und Bauer Müller würde weniger Gewinn erwirtschaften. So in etwa muss man sich die Stromsituation in Deutschland vorstellen.
Wenn erneuerbare Energien so günstig sind und der europäische Stromhandel so einwandfrei funktioniert — warum wird Strom dann nicht immer billiger?
Diese Frage ist berechtigt. An der Börse ist Strom aus erneuerbaren Energien üblicherweise am günstigsten. Und in der Theorie ist es tatsächlich so, dass die Produktion von Strom durch eine Ausweitung der erneuerbaren Energien zukünftig immer günstiger werden soll. Zu diesem Schluss kommt unter anderem eine Studie des Fraunhofer–Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) vom Juni 2021. Laut ISE betragen die Stromgestehungskosten — also die Kosten, die bei der Umwandlung von einer anderen Energieform in elektrischen Strom entstehen — bei neuen konventionellen Kraftwerken nicht weniger als 7,5 Cent pro Kilowattstunde.
Schon heute betragen diese Kosten bei Photovoltaik–Anlagen je nach Standort und Anlagentyp zwischen 3,12 und 11,01 Cent pro Kilowattstunde. 2013 lagen sie zwischen 8 und 14 Cent. Noch günstiger kann der Strom laut ISE mit 3,94 bis 8,29 Cent durch Onshore–Windkraftanlagen produziert werden. Zukünftig sollen die Preise insbesondere für Solarenergie weiter sinken, vor allem mit Blick auf den noch jungen, dynamischen Markt für PV–Batteriesysteme.
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In der Praxis sieht dies aber anders aus: Der durchschnittliche Strompreis für Privathaushalte ist in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen. Nach Zahlen des Bundesverbandes der Energie– und Wasserwirtschaft (BEDW) zahlt ein Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 3.500 Kilowattstunden im Jahr 2012 noch 25,89 Cent pro Kilowattstunde, derzeit sind es 46,91 Cent. Dies ist nicht nur durch die Inflation und den Ukraine–Krieg zu erklären, wie langfristige Zahlen des BEDW zeigen: So lag die durchschnittliche monatliche Stromrechnung für einen Standardhaushalt im Jahr 1998 bei knapp 50 Euro, im ersten Halbjahr 2022 wurden mehr als 108 Euro fällig.
Und welche Gründe gibt es für die steigenden Strompreise?
Die Gründe sind vielfältig: Zum Beispiel besteht der Strompreis nur zu einem Teil aus den Kosten für die Stromerzeugung. Lange machten Steuern, Abgaben und Umlagen mehr als die Hälfte des Strompreises aus, die andere Hälfte setzte sich zu rund je einem Viertel aus Produktionskosten und Netzentgelten zusammen.
Durch die Abschaffung der EEG–Umlage und die Verteuerung fossiler Energieträger im Zuge des Ukraine–Krieges hat sich die Zusammensetzung des Strompreises geändert: Nach jüngsten BEDW–Zahlen besteht der Strompreis im Jahr 2023 zu 52,9 Prozent aus den Produktions– und Vertriebskosten, zu 26,8 Prozent aus Steuern, Abgaben und Umlagen und zu 20,3 Prozent aus Netzentgelten. Nach BEDW–Berechnungen sind die Steuern, Abgaben und Umlagen zwischen 1998 und 2022 um 168 Prozent angestiegen, die Produktionskosten und Netzentgelte hingegen nur um 102 Prozent.
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Grundsätzlich sind die Grenzkosten für Windkraft und Solarenergie am niedrigsten. Trotzdem ist es schwierig, die Gesamtkosten von erneuerbaren und konventionellen Energien zu vergleichen, da die Preise bei beiden Energieformen durch Subventionierung und Regulierung beeinflusst werden. Zum Beispiel werden konventionelle Energieformen durch die CO2–Bepreisung und eine zunehmende Verknappung von CO2–Zertifikaten im europäischen Emissionshandel im Laufe der Zeit teurer. Zudem kostet die Energiewende unter anderem durch den notwendigen Ausbau der Infrastruktur selbst auch Geld, das durch den Preis wieder reingeholt werden muss.