Altersarmut

Warum die Rente mit 70 sozial gerecht ist

Berlin / Lesedauer: 9 min

Die Rente mit 70 ist eine versteckte Rentenkürzung, empören sich viele. Das mag sein. Nichts zu tun hat allerdings denselben Effekt – und zwar für alle heutigen Rentner.
Veröffentlicht:05.05.2023, 17:43

Von:
  • Author ImageCarsten Korfmacher
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Die mögliche Erhöhung des Renteneintrittsalters ist ein heikles Thema. Die Diskussion wird in Deutschland mit harten Bandagen geführt, in Frankreich brennen die Bürger deshalb halbe Stadtviertel nieder. Wer die Rente mit 70 fordert, riskiert einen öffentlichen Spießrutenlauf, weshalb der Vorschlag meist aus Wirtschaft oder Wissenschaft kommt. Das Problem hinter dem Rentenproblem, die unehrliche Debatte, die wir im ersten Teil dieser Serie kennenlernten, wird hier ganz besonders deutlich. Tatsächlich gibt es in Deutschland kaum einen Politiker, der proaktiv ein höheres Renteneintrittsalter fordert.

Effektivste Lösung des Rentenproblems

Das ist höchst kurios. Denn mathematisch betrachtet ist eine längere Lebensarbeitszeit und eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung die effektivste Lösung des Rentenproblems. Diese Maßnahme löst nämlich das strukturelle Problem des demografischen Wandels, das uns im zweiten Teil dieser Serie begegnete, und das zu einem immer ungünstigeren Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern führt.

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Nicht jeder soll noch mit 70 Jahren oder mehr schuften müssen. (Foto: Stephanie Pilick)

Dabei wirkt die Erhöhung der Lebensarbeitszeit direkt an zwei Hebeln: Sie reduziert die Zahl der Rentner und erhöht gleichzeitig die Zahl der Arbeitnehmer. Die Koppelung an die Lebenserwartung wiederum fixiert das Verhältnis in einer finanziell tragbaren Größenordnung.

Ist ein höheres Rentenalter sozial ungerecht?

Da der demografische Wandel ein unaufhaltbarer Prozess ist, wirkt er ebenfalls doppelt: Schon jetzt ist das Rentensystem alleine nicht finanzierbar, so dass Justierungen notwendig sind. Darüber hinaus nimmt die Unfinanzierbarkeit mit der Zeit immer weiter zu. Eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung ist somit der einzige Weg, um zumindest die Beschleunigung des drohenden Kollapses aufzuhalten. Mit flankierenden Maßnahmen könnte eine höhere Regelaltersgrenze das Rentensystem langfristig sogar stabilisieren.

Das große Problem ist, dass niemand gerne gezwungen wird, länger zu arbeiten. Und nicht nur das: Wer körperlich harte oder seelisch belastende Arbeit macht, der kann seine Lebensarbeitszeit nicht nach Belieben verlängern. Überhaupt: Was körperlich hart oder seelisch belastend ist, ist meist eine ganz persönliche Sache und geht niemanden etwas an — ganz besonders nicht den Staat. Daher ist es vollkommen verständlich, dass viele Menschen in Deutschland überhaupt nichts von diesem Vorschlag halten und sich mit gutem Recht empören, sobald er seinen Weg in die Debatte findet.

Doch an diesem Punkt ist ein kühler Kopf gefragt. Wir haben es hier mit einem Konflikt zu tun, in dem die Unausweichlichkeit der Mathematik der würdevollen Entfaltung des Individuums gegenübersteht. Erstere begrenzt das Machbare, letztere beschreibt das Wünschenswerte. Die Frage ist: Wie weit lassen sich diese beiden Punkte miteinander vereinbaren? Und was ist überhaupt wünschenswert? Auf Antworten stoßen wir, wenn wir die Lebensarbeitszeit nicht isoliert betrachten, sondern sie ins Verhältnis zur „Lebensfreizeit“ setzen — eben jener Zeit nach dem Renteneintritt, die sich ein Bürger durch seine Arbeitsjahre erwirtschaftet hat.

Dauer des Rentenbezugs hat sich verdoppelt

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter im Jahr 1960 bei 64,7 Jahren, heute liegt es bei 64,1 Jahren. Arbeitnehmer gehen heute also ein gutes halbes Jahr früher in Rente als damals. Durch eine Reform fiel das durchschnittliche Renteneintrittsalter in den 1980ern und 1990ern zeitweise auf bis zu 62,1 Jahre, stieg nach 1997 aber wieder an. Man kann also über einen Zeitraum von über 60 Jahren von einer mehr oder weniger stagnierenden Lebensarbeitszeit sprechen.

Gleichzeitig ist die Lebenserwartung und mit ihr die durchschnittliche Rentenbezugsdauer massiv angestiegen. Nach Zahlen der Deutschen Rentenversicherung lebten Rentner im Jahr 1960 im Schnitt noch 9,9 Jahre im Ruhestand, im Jahr 2021 waren es 20,5 Jahre. Das bedeutet: Die Zeitspanne der wohlverdienten Altersruhe ist für heutige Rentner mehr als doppelt so lang wie für Senioren, die im Jahr 1960 in Rente gingen.

Die Sozialverbände sehen in einer höheren Regelaltersgrenze eine Rentenkürzung für zukünftige Rentner. Mit ähnlichen Worten hat auch die SPD ihre Ablehnung der Rente mit über 67 in ihrem Partei–Programm verankert. Das kann man so sehen. Doch dann muss man ehrlich genug sein, um eine Stagnation der Regelaltersgrenze bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung ebenfalls als Rentenkürzung zu bezeichnen — nämlich für heutige Rentner.

Warum ist das so? Im Jahr 2001 lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer für Männer bei 13,8 Jahren, im Jahr 2021 lag sie bei 18,8 Jahren. Das bedeutet, dass ein männlicher Rentner im Jahr 2021 bei gleicher Lebensarbeitsleistung einen um 36 Prozent höheren Anspruch auf Lebensfreizeit erworben hat als ein Rentner im Jahr 2001.

Individuelle Lösungen verzweifelt gesucht

Extrapoliert man dies in die Zukunft, bedeutet das, dass ein heute 45–Jähriger sich im Laufe seines Arbeitslebens ebenfalls einen deutlich höheren Rentenanspruch erwirbt als eine Person, die heute mit 65 in Rente geht. Bei einer Brutto–Standardrente von gut 1600 Euro monatlich würde eine um fünf Jahre gestiegene Lebenserwartung ohne Berücksichtigung von Inflation und Rentenerhöhungen einen Unterschied von knapp 100.000 Euro machen. Eine solch massive Leistungsausweitung ohne Mehraufwand ist im Rentenrecht schlicht nicht vorgesehen.

Wenn wir also von sozialer Gerechtigkeit sprechen, dann gehört auch dies zur Wahrheit: Bei steigender Lebenserwartung ist eine stagnierende Lebensarbeitszeit gleichbedeutend mit einer Rentenkürzung für die heutige Rentnergeneration. Dies setzt sich in die Zukunft fort: Bei einer kontinuierlich steigenden Lebenserwartung wird jede Generation gegenüber ihrer Nachfolge–Generation sozial benachteiligt, weil die Nachfolger bei gleicher Arbeitsleistung einen höheren Rentenanspruch erwerben.

Nicht jeder soll mit 70 noch schuften müssen

Was bedeutet das? Es bedeutet nicht, dass der richtige Weg die mechanische Erhöhung des Rentenalters für alle ist. Niemand, wirklich niemand, verlangt, dass Menschen in körperlich oder seelisch stark belastenden Berufen auch mit 70 noch schuften müssen. Eins ist doch klar: Ganz egal, in welchem Job jemand arbeitet, der eine stößt nach 30 Arbeitsjahren an die Grenze des Machbaren, der andere will nach dem 65. Geburtstag noch mal Vollgas geben. In der Sache ist das weder verurteilens– noch lobenswert, denn die Gründe, warum jemand am Ende der Fahrt noch Saft im Tank hat, sind so unterschiedlich wie tiefgreifend persönlich. Und so unterschiedlich und persönlich muss auch die Lösung des Rentenproblems sein.

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Die Lebenserwartung steigt immer weiter. Für den einzelnen Menschen eine gute Nachricht; für das Rentensystem eine Belastung. (Foto: Patrick Pleul)

Das bedeutet, dass die Gesellschaft eine offene Debatte um den richtigen Weg in dieser Frage braucht, ohne dass bestimmte Vorschläge von vornherein als „asozial“, „würdelos“ oder als „Respektlosigkeit vor der Lebensleistung von Menschen“ abgebügelt werden. Wenn wir uns als Gesellschaft den Raum geben würden, offen und vernünftig anstatt wütend und dogmatisch über diese Frage zu diskutieren, dann würden wir vielleicht auch auf Lösungen stoßen, die sich viel individueller an die Lebensentwürfe der Bürger schmiegen als es eine fixe Regelaltersgrenze für alle kann.

Lebenserwartung könnte noch massiv steigen

Schließlich entwickeln sich die westlichen Industrienationen zusehends zu sogenannten „silbernen Gesellschaften“, in denen immer mehr Menschen auch mit 70 oder 80 mental und körperlich robust sind und wichtige Säulen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens darstellen. Diese Entwicklung wird sich mit Blick auf die Fortschritte in Medizin und Biotechnologie fortsetzen. Wenn revolutionäre, noch experimentelle Therapiemethoden wie die Gen–Schere Crispr/Cas9 zur Krebsheilung oder Vorbeugung von Herzinfarkten in Serie genutzt werden, könnte die Lebenserwartung in den Industriestaaten noch einmal sprunghaft ansteigen.

Was für ein Leben wollen wir den Senioren der Zukunft bieten? Älteren Menschen, die immer fitter, immer robuster, immer aktiver werden? Ein sinkendes Rentenniveau, steigende Altersarmut und immer größere Vermögensunterschiede? Oder ein solides, gesundes Rentensystem? Ohne eine Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung wird letzteres aber nicht gelingen. Denn viele Vorschläge, die in der öffentlichen Debatte als Lösungen des Rentenproblems gepriesen werden, sind ideologische Nebelbomben, wie wir im nächsten Teil dieser Serie sehen werden.


Diese Teile zur Renten-Serie erwarten Sie noch:

  • Zum Auftakt ging der Artikel „Die Wut muss raus aus der Rentendebatte“ grundsätzlich auf die Debatte zur Rente ein, die hochemotional geführt wird. Dabei besteht das Problem seit einem halben Jahrhundert und spitzt sich immer weiter zu. Wir haben uns daran gewöhnt, müssen aber einen Ausweg finden.
  • Der Text „So lässt sich das Rentenproblem lösen“ betrachtet das umlagefinanzierte Rentensystem strukturell. Aus den Überlegungen folgt, dass es nur eine Lösung des Rentenproblems gibt, zu dieser aber verschiedene, und verschieden gute, Wege führen.
  • Teil 4 widerlegt ein politisch sehr beliebtes Argument und stellt fest: „Gute Arbeit kann die Rente nicht retten“. Der Text sieht sich die Möglichkeit an, das Rentensystem über Arbeitsmarkt–Maßnahmen wie Lohnerhöhungen, flächendeckende Tarife oder eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu lenken. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Möglichkeiten alleine das Rentenproblem nicht lösen können und deshalb nur flankierend wirksam sind.
  • Der letzte Teil dieser Serie stellt die Frage: „Wie wird das Rentensystem zusammenbrechen?‟, wenn sich die Politik weiterhin weigert, eine ernsthafte Reform ins Auge zu fassen. In der Debatte wird häufig vom „Kollaps des Rentensystems‟ gesprochen. Dieser wird schlicht nicht eintreten, solange die Bundesrepublik nicht kurz vor der Staatspleite steht. Doch das ist nicht die eigentliche Gefahr, die von einem immer schwieriger zu finanzierenden Rentensystem ausgeht. Die Gefahr ist vielmehr, dass sich das Problem tief in den Staatshaushalt frisst und andere Bereiche infiziert. Als Folge fehlt Geld für überlebenswichtige Investitionen in die Zukunft des Landes.