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Wer steckt hinter den Gewalt-Exzessen der Silvesternacht?

Berlin / Lesedauer: 5 min

Um Silvester spielten sich bundesweit schockierende Szenen ab. Vor allem Angriffe auf Feuerwehr und Polizei sorgten für Bestürzung. Die Politik reagiert reflexartig, entscheidende Fragen werden verdrängt.
Veröffentlicht:02.01.2023, 18:14

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Auf einem auf Twitter verbreiteten Video ist zu sehen, wie eine Person mit einer Schreckschusspistole, die mit pyrotechnischer Munition bestückt ist, in das offene Fenster eines Polizeiautos schießt. Der Feuerwerkskörper explodiert im Inneren des Wagens. Das Video stammt aus Berlin und wurde vom Sprecher der Berliner Gewerkschaft der Polizei, Benjamin Jendro, veröffentlicht. Offenbar filmte der Schütze sich selbst.

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„Es sind nur drei Sekunden, die aber viel über unsere doch so hochentwickelte Spezies aussagen”, kommentierte Jendro die Szene. Zwar befanden sich anscheinend keine Insassen in dem Wagen, trotzdem sind die Bilder schockierend. Die Frage ist: Wer macht sowas? Und warum?

Ereignisse werden sofort instrumentalisiert

Es ist wenig überraschend, dass die Ereignisse schnell politisch instrumentalisiert wurden. Während linke und grüne Politiker ihre vorsilvesterlichen Forderungen nach umfassenden Böllerverboten erneuern, konzentrieren sich die rechten auf den vermeintlichen Migrationshintergrund der Übeltäter.

„Vor allem in dem migrantisch geprägten Stadtteil Neukölln kam es zu Ausschreitungen und Angriffen”, behauptete am Montag der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Schweriner Landtag, Nikolaus Kramer. Die Auslöser seien „unterschiedlich, oft beliebig”. Aus AfD-Sicht aber anscheinend nicht beliebig genug, um nicht konkret mit einem möglichen Migrationshintergrund in Verbindung gebracht werden zu können.

Richtig ist, dass Neukölln in der Silvesternacht massive Ausschreitungen erlebte. Einige Hauptstraßen des Stadtteils sind dafür berüchtigt, dass sich dort jedes Jahr Jugendgruppen gegenseitig mit Böllern und Silvesterraketen beschießen. Hier ist nach Ansicht des Psychologen Ahmad Mansour eine bundesweite Integrationsdebatte nötig. „Wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die nicht integriert ist, die nicht angekommen in dieser Gesellschaft ist. Eine Gruppe, die die Polizei und den Rechtsstaat teilweise verachtet und ablehnt”, sagte Mansour.

Allerdings ist damit nur ein Teil der Silvester-Attacken zu erklären. Denn ein Großteil der Attacken fand eben nicht in den „migrantisch geprägten” Vierteln wie Neukölln statt, sondern in Charlottenburg, Steglitz, Pankow, Treptow oder Mitte. In ganz Berlin gingen bombenähnliche Sprengstoffsätze hoch, wurden Einsatzkräfte angegriffen, Passanten mit Raketen beschossen und Fahrzeuge in Brand gesetzt.

So wurden Feuerwehrleute in Lichtenrade, nur ein paar hundert Meter von der südlichen Landesgrenze zu Brandenburg entfernt, in einen Hinterhalt gelockt und von einer Großgruppe vermummter Personen angegriffen. Ähnliche Szenen spielten sich in Kreuzberg ab, wo rund 200 Vermummte Einsatzkräfte der Feuerwehr attackierten.

Ausschreitungen in ganz Deutschland - nicht nur in "Problemvierteln"

Dass sich rechte Kreise auf den Bezirk Neukölln fixieren, ist wohl eher der Tatsache geschuldet, dass hier Assoziationen bezüglich eines propagandistisch erwünschten Täterbildes geweckt werden: nämlich jung, männlich und muslimisch. Tatsächlich aber gab es nicht nur in ganz Berlin, sondern in ganz Deutschland massive Ausschreitungen, wie der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, betonte: Es würde aus einigen Bundesländern „gerne gemeldet, bei uns war alles friedlich, alles ruhig – das stimmt eindeutig nicht”, sagte Wendt dem Fernsehsender Welt.

Auch der Osten blieb nicht unverschont: „Wir haben in den östlichen Bundesländern Hinterhalte erlebt, Barrikadenaufbau, das spricht für etwas Geplantes”, sagte Jochen Kopelke, der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, im Gespräch mit dem Nachrichtensender Phoenix.

Politik und Sicherheitsorgane reagierten mit erwartbaren Forderungen nach Verboten. So sprach sich die Berliner Gewerkschaft der Polizei für ein bundesweites Verbot von Böllern und Raketen für Privatleute aus. Auch der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) und Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Silke Gebel, forderten ein Böllerverbot.

Die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft will hingegen, dass Einsatzfahrzeuge mit sogenannten Dashcams ausgestattet werden – also mit kleinen Kameras, mit denen Angriffe besser dokumentiert werden könnten. Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD), die im Januar den Vorsitz der Innenministerkonferenz übernimmt, will das Thema dort ansprechen und somit eine bundesweite Maßnahmen-Debatte anstoßen.

Die wirklich wichtigen Fragen aber bleiben damit ungeklärt: Warum machen Menschen so etwas? Für Angriffe auf die soziale Infrastruktur des Landes – Rettungssanitäter, Feuerwehrleute, Ärzte, Polizisten – gibt es keine Rechtfertigung, wohl aber Gründe. Und es macht einen gewaltigen Unterschied, ob Einsatzkräfte aus Frust, Staatshass, Profilierungssucht, subkulturellem Kontext oder jugendlichem Übermut angegriffen wurden.

Und es macht auch einen Unterschied, ob die Motive für die Attacken aus der Situation entstanden und anschließend bereut werden, oder ob sie tieferliegende Ursachen haben. Verbotsdebatten ignorieren diese Komplexitäten vollständig.

Es ist unklar, wie lange es dauert, bis aussagekräfte, verwertbare Antworten zur Verfügung stehen. „Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich überhaupt nicht sagen, wer hinter diesen Angriffen steckt”, sagte einer Sprecherin der Berliner Polizei dem Nordkurier am Montag. Es seien zahlreiche Täter festgenommen worden, Hintergründe würden ermittelt.

Polizei-Gewerkschaftschef Rainer Wendt vermutet, dass es sich um die "üblichen Krawallmacher” handelt, „die auch sonst Autos anzünden und Steine auf Polizistinnen und Polizisten werfen”. Damit bezieht sich Wendt wohl auf die besonders in Berlin starke militante linke Szene, gewaltsuchende Personen aus dem Sportbereich, auf kleinkriminelle Milieus und auf sonstige Angehörige der rechts- und linksextremen Szenen.

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Die verstörende Vermutung wächst, dass es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, auf den sich die vielen Angriffe auf Einsatzkräfte herunterbrechen lassen.