Altersarmut
Wie bricht das Rentensystem zusammen?
Berlin / Lesedauer: 10 min

Carsten Korfmacher
Häufig wird vom Kollaps des Rentensystems gesprochen. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als könnte es einen tatsächlichen Zusammenbruch geben, wie bei einem maroden Haus, das irgendwann in sich zusammenfällt. Diese Sichtweise ist falsch. Das Rentensystem ist praktisch bis zu einer Staatspleite der Bundesrepublik „sicher“: Keine Regierung würde die monatlichen Rentenleistungen kürzen oder streichen, nur um die Lage des Staatshaushalts aufzubessern.
Kein Kollaps des Rentensystems, sondern eine Degeneration
Eine solche Maßnahme würde direkt zu einer Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung führen, im schlimmsten Fall zu einer Hungerskrise oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass die Kosten für die Behebung dieser Folgen in keinem Verhältnis stehen würden zur einfachen Weiterzahlung der Rente — auch wenn diese nur noch auf Pump möglich wäre.
Deshalb ist es besser, nicht von einem Kollaps, sondern von einer Degeneration des Rentensystems zu sprechen, von einem kontinuierlichen Verfall. Das ist die wahre Bedrohung durch die demografische Entwicklung. Um bei der Metapher des maroden Hauses zu bleiben: Die Gefahr ist nicht, dass das Gebäude einstürzt und alle Bewohner unter sich begräbt.
Die Gefahr ist, dass es im Laufe der Zeit so teuer wird, das Haus vor dem Einsturz zu bewahren, dass kaum noch Spielraum für andere notwendige Ausgaben bleibt: Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen, in Forschung und Entwicklung, Klimaschutz, Wirtschaftsförderung — generell in die Zukunft des Landes.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Politik dieses marode Haus immer nur neu angestrichen. Stattdessen ist eine Kernsanierung notwendig: Die tragenden Balken des Systems müssen erneuert und die Statik auf ihre nachhaltige Belastbarkeit geprüft werden. Das ist kurzfristig schmerzhaft und teuer, aber langfristig der einzige Weg, um die Folgekosten im Rahmen zu halten.
Kann das System von außen stabilisiert werden?
Die große Gefahr dabei ist, dass wir nicht erkennen, wann die Zeit gekommen ist, um die Reißleine zu ziehen. Wie wir in den vergangenen vier Serienteilen sahen, kann schließlich immer irgendetwas gemacht werden, um wieder für ein paar Jahre über die Runden zu kommen.

Gleichzeitig sind die Folgekosten erst auf den zweiten Blick sichtbar. Denn es handelt sich um sogenannte „Opportunitätskosten“, die einen Nutzen beschreiben, der aufgrund einer unterlassenen Handlung verloren geht.
Vereinfacht gesagt: Würde man die 100 Milliarden Euro aus Steuergeldern, die jedes Jahr ins Rentensystem fließen, jährlich ins Bildungswesen oder die wirtschaftliche Förderung von Zukunftstechnologie–Startups stecken, bräuchte man sich in einigen Jahren keine Sorgen mehr um den Fachkräftemangel oder die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik zu machen. Doch dieser Nutzen geht verloren, weil wir uns seit über einem halben Jahrhundert dazu entscheiden, das Rentenproblem nicht grundsätzlich zu lösen.
Von innen heraus gibt es nur eine einzige Möglichkeit, den strukturellen Fehler im Rentensystem zu beheben: Das Problem beginnt mit der steigenden Lebenserwartung, deswegen endet es auch dort, nämlich indem das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt wird. Diese Maßnahme ist aber so unpopulär, dass befürchtet werden muss, dass sie erst umgesetzt wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Doch was ist mit „externen“ Lösungen? Könnte das Rentensystem nicht irgendwie von außen stabilisiert werden? Es gibt zwei vielversprechende, aber letztlich erfolglose Optionen.
Beamte und Selbstständige retten das System nicht
Gleich zu Beginn dieser Serie wandten sich zahlreiche Leser mit einem Vorschlag an den Nordkurier: Alle Erwerbstätigen des Landes, auch Beamte, Selbstständige und Politiker, müssten in die gesetzliche Rente einzahlen. Dadurch würden die Einnahmen deutlich erhöht, was den Druck auf das System insgesamt verringere. Österreich, das mit einem Rentenniveau von knapp 80 Prozent deutlich über den 48 Prozent in Deutschland liegt, setzt ein solches Modell bereits seit Jahren um.
Das Problem dabei ist, dass dieser Vorschlag das strukturelle Problem des umlagefinanzierten Rentensystems nicht löst. Nach Analysen der internationalen Unternehmensberatung Mercer, die jedes Jahr die besten Rentensysteme kürt, hat Österreich die zukunftsunfähigste Rente der Welt. Die Alpenrepublik sitzt demnach mehr noch als Deutschland auf einer tickenden Zeitbombe.
Überraschend ist diese Erkenntnis nicht: Es mag sein, dass bei einer Zusammenlegung der Systeme kurzfristig mehr Geld zur Verfügung stünde, weil Beamte und Selbstständige im Schnitt relativ hohe Einkommen haben und damit auch hohe Rentenbeiträge zahlen. Doch gleichzeitig erwerben sie auch höhere Rentenansprüche.

Deswegen werden nur die Einnahme– und Ausnahmeströme verschoben, gesamtwirtschaftlich ändert sich aber nichts: Da zukünftig weniger Betragszahler mehr Rentner finanzieren müssen, ganz egal, ob diese angestellt, selbstständig oder verbeamtet sind, wird der strukturelle Fehler im Rentensystem schlicht nicht adressiert. Auch wenn die Zusammenlegung der Systeme aus anderen Gründen sinnvoll sein kann, wird das Rentenproblem dadurch nicht gelindert, geschweige denn gelöst.
Die Rente am Aktienmarkt anlegen?
Wirklich hilfreich wäre es, wenn das Rentensystem außer Beiträgen und Steuerzuschüssen noch andere Einnahmeströme hätte. Das ist die Idee hinter einer teils kapitalgedeckten Rente: Geld wird am globalen Kapitalmarkt angelegt und die Gewinne fließen direkt ins Rentensystem. Ein solcher Mechanismus wird gerade eingeführt, im Raum stehen schuldenfinanzierte 10 Milliarden Euro pro Jahr.
Das Problem dabei: Auch wenn es sich viel anhört, die Summe ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Warum? Gehen wir davon aus, dass ein deutscher Staatsfonds eine jährliche Rendite von 7 Prozent erwirtschaften kann. Das ist die historische Durchschnittsrendite am globalen Aktienmarkt. Wahrscheinlich wird sie etwas geringer ausfallen, weil der Fonds mehr Sicherheiten bräuchte, die wiederum weniger Rendite bringen.
Von diesen 7 Prozent muss zunächst die Inflation abgezogen werden, schließlich finden inflationsausgleichende Rentenerhöhungen statt. Gehen wir vom EZB–Ziel von 2,0 Prozent aus. Außerdem muss der Schuldendienst abgezogen werden, denn die Einlagen des Staatsfonds werden über die Ausgabe von Bundesanleihen, also über Staatsschulden, finanziert. Gehen wir optimistisch von einem durchschnittlichen, langfristigen Zins von 1,0 Prozent aus. Hinzu kommen realistische Verwaltungskosten von 0,5 Prozent.
Die Aktienrente kommt aber viel zu spät
Der deutsche Renten–Fonds kann unter dem Strich unter diesen Annahmen also nur noch 3,5 Prozent Gewinn bringen. Um jährlich die rund 100 Milliarden Euro zu erwirtschaften, die bereits heute aus Steuergeldern ins Rentensystem fließen, müsste der Staatsfonds ein Volumen von mehr als 2,85 Billionen Euro haben. Um dieses Volumen mit 10 Milliarden Euro pro Jahr zu erreichen, dauert es mehr als 285 Jahre.
Das bedeutet: Es würde bis ins Jahr 2308 dauern, bis der Staatsfonds das Defizit ausgleichen könnte, das bereits im Jahr 2023 im deutschen Rentensystem besteht. Würde der jährliche Gewinn nicht zur Stabilisierung des Rentensystems abgeschöpft, sondern zum Zwecke des Zinseszinseffektes im Fonds behalten, würde es unter den obigen Annahmen immer noch 75 Jahre dauern, bis der Staatsfonds das notwendige Volumen erreicht hätte.

Diese Rechnung ist hochspekulativ und stark vereinfacht, zeigt aber, von welchen Größenordnungen wir hier sprechen: Jährlich 10 Milliarden Euro sind einfach zu wenig, um kurz– oder mittelfristig einen Unterschied zu machen. Auf die sehr lange Sicht ist die Aktienrente — vernünftig konzipiert — ein elementarer Baustein zukünftiger Staatshaushalte. Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die finanzielle Überforderung des Staates durch den demografischen Wandel früher eintritt als das Fließen saftiger Gewinne aus einem Renten–Aktienfonds.
Es besteht Hoffnung für das Rentensystem
Was lässt sich nun aus all den Informationen schließen, die wir in dieser Serie zusammengetragen haben? Vor allem eines: Das Rentensystem benötigt eine grundlegende Reform, deren zentrales Element die Koppelung der Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung sein muss.
Die entscheidende Frage hier ist nicht das „ob“, sondern das „wie“: Wie kann eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit sozial gerecht und sinnvoll umgesetzt werden? Zu dieser Frage muss es eine offene und ehrliche Diskussion geben, in der die Gesellschaft ohne Wut und Nebelbomben um die besten Vorschläge ringt. Durch eine solche Reform kann die Degeneration des Rentensystems aufgehalten werden.
Um es zu stabilisieren, sind weitere fundamentale Maßnahmen erforderlich: Die Aktienrente wird hier eine zentrale Rolle spielen, da sie bei einem langfristig überschaubaren Risiko leistungslose Zusatzeinnahmen verspricht. Auch die Zusammenlegung der Systeme für Rentner und Beamte ist eine Option, die zwar das System nicht rettet, aber zumindest das Gefühl schafft, dass wir alle in einem Boot sitzen.
Flankierende Maßnahmen können dann dazu dienen, die steuerliche Subventionierung des Rentensystems Schritt für Schritt zu reduzieren. Dazu gehören gute Löhne, gute Arbeitsbedingungen, eine Förderung lückenloser Erwerbsbiografien, eine verpflichtende Berufsrente, eine staatlich geförderte, massiv steuererleichterte private Altersvorsorge und bürokratiearme Möglichkeiten der Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme.
In den Industrienationen ist der demografische Wandel eine der kolossalen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte. Doch er muss nicht ausweglos sein. Das Rentensystem ist nicht dem Untergang geweiht.
Diese Teile zur Renten-Serie erwarten Sie noch:
- Zum Auftakt ging der Artikel „Die Wut muss raus aus der Rentendebatte“ grundsätzlich auf die Debatte zur Rente ein, die hochemotional geführt wird. Dabei besteht das Problem seit einem halben Jahrhundert und spitzt sich immer weiter zu. Wir haben uns daran gewöhnt, müssen aber einen Ausweg finden.
- Der Text „So lässt sich das Rentenproblem lösen“ betrachtet das umlagefinanzierte Rentensystem strukturell. Aus den Überlegungen folgt, dass es nur eine Lösung des Rentenproblems gibt, zu dieser aber verschiedene, und verschieden gute, Wege führen.
- „Warum die Rente mit 70 sozial gerecht ist“ beschäftigt sich mit einer möglichen Erhöhung des Renteneintrittsalters. Dies ist ein hochemotionales Thema und wird kaum sachlich diskutiert. Längeres Arbeiten wird oft als Rentenkürzung für zukünftige Generationen verstanden. Wenn das so ist, dann muss eine gleichbleibende Lebensarbeitszeit bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung als Rentenkürzung für derzeitige Rentner verstanden werden. Das wirft große Fragen auf: Was ist sozial gerecht, nicht nur mit Blick auf zukünftige Rentner, sondern auch gegenüber der heutigen Rentnergeneration? Und wie ist es überhaupt möglich, hier einen gesellschaftlichen Kompromiss zu finden? Schließlich ist völlig klar, dass Pflegekräfte, Polizistinnen oder Dachdecker ihre Lebensarbeitszeit nicht beliebig verlängern können.
- Teil 4 widerlegt ein politisch sehr beliebtes Argument und stellt fest: „Gute Arbeit kann die Rente nicht retten“. Der Text sieht sich die Möglichkeit an, das Rentensystem über Arbeitsmarkt–Maßnahmen wie Lohnerhöhungen, flächendeckende Tarife oder eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu lenken. Er kommt zu dem Schluss, dass diese Möglichkeiten alleine das Rentenproblem nicht lösen können und deshalb nur flankierend wirksam sind.