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Auf der Spur des langen Lebens

Die Insel der Hundertjährigen - und ihr Geheimnis

Ogimi / Lesedauer: 8 min

Ogimi ist ein kleines Dorf im Norden der japanischen Inselgruppe Okinawa. Es ist ein besonderer Ort, denn hier leben weltweit die meisten Hundertjährigen. Liegt es an der gepriesenen Bittergurke Goya, die die Einheimischen dort essen? Oder gibt es andere Gründe? Die Altersforscherin Sabina Misoch hat das Dorf besucht und ihre eigenen Vermutungen.
Veröffentlicht:28.05.2019, 18:17

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Wie kann man sich das Leben in diesem Dorf vorstellen?

In Ogimi leben sehr viele hochbetagte Menschen. Ich war in einem Dorfteil mit etwa 510 Einwohnern. Davon waren 100 Menschen zwischen 70 und 90 Jahre alt, 35 Einwohner waren 90 Jahre und älter und fünf waren 100 Jahre und älter. Einen Ruhestand kennen die Einwohner nicht. Das Leben ist sehr agrarisch geprägt. Sie bestellen auch im hohen Alter noch ihren Garten und bauen ihr Gemüse und ihre Früchte an. Und sie kümmern sich umeinander. Der soziale Zusammenhalt und die Anteilnahme sind sehr groß.

Werden Frauen und Männer dort gleichermaßen alt?

Nein, die Frauen leben wesentlich länger. Ich vermute dafür ähnliche Gründe wie bei uns. Die unterschiedliche Lebenserwartung ist ja auch ein Ergebnis davon, dass Männer risikoreicher leben, später zum Arzt gehen, wenn sie Probleme haben und insgesamt ein schlechteres Gesundheitsbewusstsein haben.

Wissenschaftler vermuten schon lange, dass die Ernährung auf Okinawa einen großen Anteil an der langen und guten Gesundheit der Einwohner hat. Wie ernähren sich die Menschen denn dort?

Ich muss voranschicken, dass sich mein Forscherkollege Makoto Suzuki damit viel besser auskennt. Er war als junger Mediziner vor gut 40 Jahren auf die Insel gekommen, eigentlich aus einem anderen Grund, und ist eher durch Zufall darauf gestoßen, dass die Menschen dort sehr alt werden. Er hat dann eine Studie begonnen, um herausfinden, was die Ursachen dafür sind. Weil Makoto Suzuki Mediziner ist, haben ihn zuerst die gesundheitlichen Aspekte – wie Genetik und Ernährung – interessiert. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Ernährung auf Okinawa sehr speziell ist. Die Menschen essen weniger Fisch als auf der japanischen Hauptinsel Honshu. Stattdessen essen sie viel Algen, viel selbst angebautes Gemüse. Ich persönlich finde das Essen auf Okinawa viel leckerer als das auf Honshu. Es gibt dort Algen, die aussehen wie kleine Weintrauben. Die sind so lecker! Die Menschen essen auch mehr Schweinefleisch, überhaupt mehr Fleisch, als es zum Beispiel in Tokio der Fall ist. Und dann gibt es natürlich auch die berühmte Bittergurke Goya auf Okinawa. Die habe ich auch gegessen.

Wie schmeckt sie?

Also wenn man sie nicht vorher in Wasser einlegt, schmeckt sie wirklich scheußlich, bitter. Aber sie wird gern mal als Grund gefeiert, warum die Menschen dort so lange leben. Nur ist es eben die Frage, wie viel wirklich Ernährung und wie viel der Lebensstil ausmacht.

Sie glauben nicht, dass die Bittergurke das große Geheimnis der Hundertjährigen auf Okinawa ist?

Die westliche Welt würde ja alles Erdenkliche essen, wenn sie sicher sind, dadurch lange zu leben. Aber ich glaube, viel entscheidender für ein langes Leben ist die Lebenseinstellung.

Deshalb sind Sie auf die Insel gekommen. Sie vermuten im Alltag der Menschen einen weiteren Schlüssel für ein langes Leben.

Ja, meine Forschung ist praktisch eine Ergänzung zu der Forschung von Herrn Suzuki. Ich schaue, welche anderen Faktoren neben Ernährung und Genetik noch einen Einfluss auf die Langlebigkeit haben.

Was haben Sie herausgefunden? Was ist das Besondere an der Lebenseinstellung der Menschen auf Okinawa?

Typisch für die Menschen ist, dass sie sich Zeit lassen. Sie gehen mit Stress anders um, beziehungsweise leben so, dass sie keinen Stress haben. Das führt dazu, dass sich die Japaner auf der Hauptinsel Honshu lustig über die Menschen auf Okinawa machen. Sie halten sie für faul, für Taugenichtse, die den ganzen Tag nichts tun. Die Okinaweser wiederum machen sich lustig über die Tokio-Japaner und sagen, die schuften sich ja regelrecht zu Tode. Die Menschen auf Okinawa haben wirklich einen anderen Umgang mit Zeit. Das sieht man ihnen auch an, sie haben eine gelassene und ganz tolle Ausstrahlung. Und ganz wichtig ist eben auch diese Gemeinschaft im Dorf, die Zugehörigkeit und das soziale Engagement.

Es gibt auch ein Gemeindezentrum, das eine wichtige Funktion hat. Erzählen Sie mal mehr darüber.

Dieses Gemeindezentrum ist ein medizinischer und sozialer Treffpunkt. Die Gemeinde bietet dort einen kostenlosen Gesundheitscheck an, es wird Blutdruck gemessen, nach dem Wohlbefinden gefragt. Quasi jeder Senior und jede Seniorin hat ein kleines Gesundheitsbüchlein, wo alles festgehalten wird, und wenn etwas nicht stimmt, werden Arzttermine vereinbart. Allerdings erzählten mir die Senioren auch, dass mit 65 noch niemand ins Gesundheitszentrum komme, da sei man ja noch viel zu jung. Die Dorfbewohner kommen so ab 85, weil sie dann langsam das Gefühl haben, sie werden wirklich ein bisschen älter. Aber die Menschen kommen dort auch zusammen, unterhalten sich, es gibt Tee und Gebäck, Kindergartenkinder kommen vorbei und es wird gemeinsam Gymnastik gemacht. Bei diesen Übungen saß ich neben einer Hundertjährigen und habe wirklich einige Übungen schlechter zustande bekommen, als sie (lacht), obwohl ich nicht einmal halb so alt bin. Aber ich tröste mich damit, dass sie die Übungen auch häufiger macht. Diese Hundertjährige hat zwar einen Gehstock, aber da habe ich das Gefühl, den hat sie eher aus Prestigegründen. Sie läuft total aufrecht. Diese hochbetagten Menschen sind körperlich in einem extrem guten Zustand. Beim anschließenden Tanz hat mich eine 93-Jährige zum Mitmachen aufgefordert und tanzte wirklich noch ganz munter über das Parkett: Also wirklich sehr beeindruckend!

Was haben Sie persönlich von der Reise mitgenommen?

Das sind tolle, beeindruckende Frauen. Das hat so viel Spaß gemacht, sie zu treffen. Sie sind unglaublich warmherzig. Dabei haben sie so viel Schlimmes erlebt: den Zweiten Weltkrieg, die Schlacht von Okinawa, viel Armut und Überlebenskampf. Und doch sind sie einfach zufrieden, mit dem was sie haben und schauen nicht immer, was könnte ich noch haben, weswegen könnte ich jetzt unzufrieden sein. Als ich dort war, ist kurz zuvor wieder ein schlimmer Taifun über das Dorf geweht und hat vieles verwüstet. Das wird dann einfach so akzeptiert. Das ist jetzt so. Es kommen ja ständig Taifune vorbei, das war der, ich weiß nicht, 23ste in der Saison. Dann zieht man eben die Bäume wieder neu und versucht das Beste daraus zu machen, bis der nächste Taifun kommt. Sie haben eine andere Ruhe in sich, die Dinge, die passieren, passieren halt. Ich finde, sie haben einen guten Umgang damit.

Wie lebt denn die junge Generation auf Okinawa?

Okinawa hat 1,4 Millionen Einwohner, aber es ist eben auch eine Insel, auf der es zwar überraschend viele Universitäten, aber wenige Arbeitsplätze gibt. Viele junge Menschen verlassen deshalb die Insel und gehen in die Städte auf Honshu, viele bleiben aber auch noch auf Okinawa.

Hat die junge Generation eine ähnliche Haltung zum Leben wie die Alten auf Okinawa?

Die nächste Generation zeigt nicht mehr diesen Lebensstil und ernährt sich auch nicht mehr so. Ich denke, dass sich deshalb diese hohe Lebenserwartung relativieren wird und die nächste Generation wohl nicht mehr so langlebig sein wird.

Sind Erkenntnisse, die Sie auf Okinawa sammeln konnten, auf die Schweiz übertragbar?

Also für mich war wichtig zu schauen, gibt es Faktoren neben der Ernährung und vielleicht Genetik, die wichtig für eine Langlebigkeit sein könnten. Wir planen eine Studie mit Hochaltrigen in der Schweiz durchzuführen, dafür waren die Interviews auf Okinawa so etwas wie der Anfang.

Ihre Studie ist demnach noch nicht abgeschlossen. Können Sie trotzdem schon eine Vermutung äußern?

Die Studie in der Schweiz muss erst noch bewilligt werden. Aber ich nehme an, dass ein Faktor, der sich auch bei uns als extrem wichtig herausstellen wird, der Lebenssinn ist. Wenn ich weiß, wozu ich jeden Tag aufstehe, wozu ich weiterlebe. Wobei Lebenssinn für jeden etwas ganz Unterschiedliches sein kann, die Enkelkinder, die Familie, der Garten... Wichtig ist, dass ich etwas habe, was mir am Herzen liegt, was mein Leben dann wirklich auch mit Sinn füllt. Bis zur Rente wird dies ja ganz entscheidend durch die Erwerbstätigkeit geprägt. Wenn es mir auch danach gelingt, ein sinnerfülltes Leben zu führen, habe ich zum einen eine andere Lebensqualität im Alter und wahrscheinlich auch eine bessere Chance zufrieden alt und hochalt werden zu können.

Weitere Informationen zu der Altersforscherin Prof. Dr. Sabina Misoch von der Universität St. Gallen.