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Corona-Pandemie

Warum es in Deutschland so wenig Corona-Tote gibt

Neubrandenburg / Lesedauer: 5 min

Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sterben in Deutschland deutlich weniger Menschen an Covid-19. Wird sich der weltweite Trend irgendwann Deutschland anpassen – oder umgekehrt?
Veröffentlicht:08.04.2020, 18:44

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Wie gefährlich das Coronavirus ist, wird meistens nur an einer einzigen Zahl festgemacht: der sogenannte Falltodesrate. Diese Zahl beschreibt die Anzahl der infizierten Personen in Prozent, die an der Krankheit sterben. Im weltweiten Durchschnitt sterben derzeit rund 5,75 Prozent aller Corona-Infizierten an der Krankheit. In vielen europäischen Ländern sind es sogar deutlich mehr: 12,63 Prozent in Italien, 11,03 Prozent in Großbritannien, 9,92 Prozent in Spanien und 9,40 Prozent in Frankreich. In den USA, wo die Pandemie derzeit am stärksten wütet, sterben immer noch 3,23 Prozent aller Infizierten an Covid-19. Und in Deutschland? Mit 2016 Toten bei 107.663 Infizierten (Johns-Hopkins, Stand 8. April 13 Uhr) liegt die Falltodesrate hier bei vergleichsweise niedrigen 1,87 Prozent.

Dies hat nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland Fragen aufgeworfen. Zahlreiche internationale Medien, darunter die „New York Times”, das US-Magazin „Time”, der britische „Guardian” und die „Financial Times”, haben sich mit der Frage der deutschen Anomalie beschäftigt. Die vielen Analysen offenbaren, dass es neben einigen statistischen Verzerrungen auch reale Unterschiede gibt. Dies sind die wichtigsten Faktoren:

1. Das Alter der Erkrankten

Derzeit beträgt das Durchschnittsalter eines Corona-Infizierten in Deutschland 49, in Italien 62 und in Frankreich 62,5 Jahre. Corona habe in Deutschland „als Skier-Krankheit begonnen”, sagte Hans-Georg Kräusslich, der Leiter der Virologie am Universitätsklinikum in Heidelberg, der New York Times. Die ersten Patienten hätten sich das Virus in österreichischen und italienischen Ski-Ressorts eingefangen. Somit seien zunächst eher sportliche, junge Leute betroffen gewesen, bei denen die Krankheit Covid-19 für gewöhnlich einen milderen Verlauf nehme. Erst in den Wochen danach hätte sich das Virus in Deutschland ausgebreitet und dann auch ältere Menschen infiziert. Zum Zeitpunkt der ersten Infektionen in Deutschland hatte sich das Virus, davon gehen Epidemologen aus, in Spanien oder Italien aber schon tief in die Mitte der Gesellschaft „vorgearbeitet”. Und da nach neuesten Studien etwa 23 bis 24 Tage zwischen Corona-Infizierung und Tod vergehen, sind diese Länder Deutschland zumindest in diesem Punkt rund drei Wochen voraus.

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2. Die Zahl der Corona-Tests

Laut Robert Koch-Institut (RKI) wurden in Deutschland bis Ende März etwa 920.000 Corona-Tests durchgeführt, in einer einzigen Woche im März waren es 350.000 Tests. Das ist mehr als in jedem anderen europäischen Land. Die hohe Testrate führt zum einen zu einer statistischen Anomalie: In Italien, Spanien oder den USA werden in erster Linie schwerkranke Patienten getestet, die eine viel höhere Sterbe-Wahrscheinlichkeit haben. In Deutschland hingegen werden auch Personen getestet, die gar keine Symptome haben, dafür aber Kontakt zu einer positiv getesteten Person hatten. Somit fallen automatisch viel mehr Personen in die Statistik, die positiv sind, aber nicht sterben. Oder anders gesagt: In Italien, Spanien, Frankreich und den USA ist die Dunkelziffer der Infizierten deutlich größer. Zum anderen hat das frühe Testen aber auch entscheidende Vorteile: Erstens kann eine Behandlung, wenn nötig viel früher beginnen. Dadurch erhöht sich die Überlebenschance des Patienten. Zweitens ist es möglich, frühzeitig die Kontakte des Infizierten in Quarantäne zu nehmen, bevor diese weitere Personen anstecken können. Dieses sogenannte „Tracking” wurde sehr erfolgreich vor allem in Südkorea durchgeführt.

3. Tote werden unterschiedlich gezählt

Auch werden Tote in verschiedenen Ländern unterschiedlich gezählt. Zum Beispiel gibt es in Deutschland normalerweise keine Post-Mortem-Tests auf Corona, während Italien fast alle Toten auf Corona testet. Somit könnte in Deutschland eine unbekannte Anzahl an Todesfällen auf Covid-19 zurückgehen, obwohl diese nie in der Statistik auftauchen. Ausgeglichen werden könnte dies durch eine andere statistische Anomalie: In Deutschland wird nämlich jeder als Corona-Toter gezählt, der stirbt, das Virus hat und bei dem eine andere Todesursache unwahrscheinlich ist. Wie sich diese beiden Eigenarten statistisch auswirken, wird man wohl erst im kommenden Jahr sagen können, wenn die Epidemie vorüber ist und Vergleiche mit den Vorjahren angestellt werden können.

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4. Gesundheitssystem

Deutschland hatte vor Beginn der Pandemie die höchste Zahl an Intensivbetten in Europa. 28.000 Betten standen im Februar zu Verfügung, mittlerweile sind es 40.000. In der Bundesrepublik kommen 34 Betten auf 100.000 Einwohner. In Italien liegt diese Zahl bei 12, in den Niederlanden bei 7. Deutschland hat in den vergangenen Wochen sogar Covid-19-Patienten aus Italien, Frankreich und Spanien aufnehmen können, weil derzeit die Kapazitäten noch ausreichen. Bilder von überfüllten Krankenhäusern und Zeltstädten für Corona-Patienten, wie es sie aus Madrid, Norditalien oder New York City gibt, gibt es hier zumindest noch nicht. Allerdings bereiten sich auch in Deutschland die Behörden auf das Schlimmste vor: In zahlreichen Großstädten wie Berlin, Düsseldorf und Hannover entstehen Behelfskliniken mit tausenden Betten auf Messegeländen oder anderen Flächen.

5. Vertrauen in die Regierung

Die New York Times kommt außerdem zu einem für das deutsche Ohr eher überraschenden Ergebnis: Die niedrige Todesrate in der Bundesrepublik habe auch etwas mit dem Vertrauen der Deutschen in ihre Regierung zu tun. Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich klar, ruhig und regelmäßig an die Bevölkerung gewandt und die erforderlichen Schutzmaßnahmen erklärt. Da es wenig Widerspruch gegeben habe und sich die Bürger an die Vorgaben des Bundes und der Länder hielten, habe die Epidemie in Deutschland zügig eingedämmt werden können.