Das passiert beim Jugendamt, wenn Kinder in Gefahr sind
Greifswald / Lesedauer: 4 min

„Wir verfolgen jedes Jahr viele Hinweise auf Kindeswohlgefährdung“, sagt Dirk Scheer, Sozialdezernent beim Landkreis Vorpommern-Greifswald. Im vergangenen Jahr waren rund 900 Kinder im Visier des Jugendamtes. Allerdings: Bei nicht einmal 20 Prozent muss das Jugendamt am Ende solch eines Verfahrens eingreifen. Oberstes Gebot bei der Prüfung ist, dass jeweils zwei Sozialarbeiter ein Verfahren begleiten und zum Abschluss noch einer der drei Teamleiter im Kreis einen Blick auf die Unterlagen wirft, um sicher zu stellen, dass es keine Fehler gab.
„Wir sind froh über die steigenden Zahlen, weil wir so sicher stellen können, dass das Dunkelfeld kleiner wird“, sagt Scheer. 2012 standen noch 474 Kinder im Blickfeld des Jugendamtes, seitdem stieg die Zahl kontinuierlich. Allerdings gebe es immer wieder Anlässe, bei denen Eltern oder Großeltern einfach angeschwärzt werden. Das geschieht zum Beispiel im Zuge eines Rosenkriegs oder vom missliebigen Nachbarn. „Trotzdem gehen wir diesen Fällen mit der gleichen Sorgfalt nach wie allen anderen Hinweisen“, sagt eine Mitarbeiterin des Jugendamtes.
Vier-Augen-Prinzip kommt zum Tragen
„Wichtig ist uns, dass wir Hinweise immer entgegen nehmen können“, sagt Scheer. Sogar er selbst hat die Formulare für den Erstkontakt in seinem Schreibtisch liegen, damit Anrufer nicht abgewimmelt werden müssen. Außerhalb der Bürozeiten werden Hinweise auf Kindeswohlgefährdung von der Leitstelle unter dem Notruf 112 entgegen genommen. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es zudem die Kindernotruf-Hotline 0800/1414007, die letztlich aber auch in der Leitstelle aufläuft.
Beim ersten Kontakt mit dem Jugendamt werden die Hinweise aufgenommen und dokumentiert. Das ist auch anonym möglich. „Innerhalb einer Stunde muss der Fall dann bei einem unserer Sozialarbeiter auf dem Tisch liegen – auch das dokumentieren wir per Unterschrift“, erklärt Scheer. Nach dem Vier-Augen-Prinzip schätzen die Sozialarbeiter dann das Risiko für die Kinder ein. Überprüft wird dabei auch, ob es bereits in der Vergangenheit Hinweise gab. Landkreis-Sprecher Achim Froitzheim sagt: „Im Fall Leonie hat es leider keinen zweiten Hinweis gegeben, sonst hätten bei uns im Jugendamt alle Alarmglocken geschrillt.“
Eingeschätzt werden auch sofortige Maßnahmen. Kann nicht ausgeschlossen werden, dass Gefahr für Leib und Leben besteht, beispielsweise bei einem Verdacht auf Selbstmordgefahr, werde umgehend ein Notarzt informiert. Abschließend wird festgelegt, was getan werden muss. Das kann ein sofortiger unangemeldeter Hausbesuch sein, etwa beim Verdacht von Vernachlässigung oder Körperverletzung. In Einzelfällen meldet sich das Jugendamt auch – zum Beispiel, wenn die Familie bekannt ist und es bereits einen Hilfeplan gibt, der ohnehin regelmäßig überprüft wird.
Auch diese Hausbesuche werden penibel dokumentiert, genauso wie die dabei geführten Gespräche. Dafür gibt es eine weitere Checkliste. „Wir haben diese Dienstanweisung zuletzt Anfang 2017 überarbeitet und aktualisiert“, erklärt Scheer. Wenn sich bei den Gesprächen und Hausbesuchen noch kein klares Bild ergibt, werden weitere Schritte anberaumt. Das sind Besuche in der Schule oder im Kindergarten. „Wir stellen auch sicher, dass uns die richtigen Kinder gezeigt werden, indem wir alle in Augenschein nehmen, die im Haushalt leben“, sagt Scheer. Um sicher zu gehen, werde zuvor eine Abfrage beim Meldeamt gemacht.
Befragt werden können auch die Kinderärzte. Im Fall Leonie ist das Jugendamt seinerzeit sogar diesen Schritt gegangen. „Die Mutter wurde uns damals als fürsorgend geschildert“, sagt Froitzheim. Auch die regelmäßigen Untersuchungen, die sogenannten „U-Untersuchungen“ habe Leonies Mutter mit ihren Kindern wahrgenommen, so der Stand im Februar 2018.
Jugendamt bietet Hilfen zur Erziehung an
Wenn auch Gespräche mit Medizinern, Verwandten, Erziehern oder Lehrern erfolgt sind, wird das komplette Material zusammengefasst und es gibt in Form einer Situationsbeschreibung eine erneute Risiko-Einschätzung. „Auch wenn keine Kindeswohlgefährdung vorliegt, gibt es viele Möglichkeiten, in denen wir eingreifen, zum Beispiel indem wir Hilfen zur Erziehung anbieten, um auch künftig eine Gefährdung auszuschließen“, sagt die Jugendamtsmitarbeiterin. Im schlimmsten Fall werden die Kinder in Obhut genommen, um sie zu schützen. Oder es wird ein Schutzplan aufgestellt und es werden regelmäßige Kontrolltermine vereinbart.
„Ein Teil davon ist, dass wir die Familien dann eng begleiten und uns auch regelmäßig austauschen, zum Beispiel mit den Kinderärzten“, sagt die Mitarbeiterin vom Jugendamt. Ziel ist es jedoch, die Kinder nach Möglichkeit bei den Eltern zu lassen. Denn: „Kinder brauchen immer eine Familie.“