Nach Corona

Immer mehr Menschen in Vorpommern sind überschuldet

Greifswald / Lesedauer: 6 min

Schuldnerberater Volker Hertenstein weiß, wieso vor allem 30- bis 50-Jährige von einer Privatinsolvenz betroffen sind und erklärt im Interview was zu tun ist.
Veröffentlicht:19.10.2021, 05:19
Aktualisiert:06.01.2022, 22:17

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Immer mehr Menschen haben immer weniger Geld. Für viele ist eine Privatinsolvenz ein Weg, wenn Soll und Haben derart aus dem Gleichgewicht geraten sind. Wie viele Klienten betreuen Sie unter Ihrem Greifswalder Dach?

Wir haben im Quartal circa 650 Kontakte. Der Aufwand für die einzelnen Beratungen ist dabei sehr unterschiedlich. Wir sind für die gesamte Region des Landkreises Vorpommern-Greifswald zuständig. Die Entfernungen sind für die Nutzer zum Teil sehr groß. Hier besteht aber der große Vorteil für unsere Ratsuchenden, dass wir unsere Beratung auch über eine professionelle Online-Plattform anbieten. Diese Möglichkeit wird von vielen genutzt.

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Wie hat sich die Anzahl der Klienten in den vergangenen Jahren entwickelt, auch vor dem Hintergrund von Corona?

Die Zahl der Ratsuchenden ist im Vergleich zu den Vorjahren stetig gestiegen. Die Problemlagen, mit denen wir schon immer konfrontiert waren, bestanden bereits vor Corona. Durch die Pandemiesituation wurden diese nur noch verstärkt. Das betrifft vor allem auch die Erreichbarkeit von Behörden und Institutionen für soziale Leistungen. Hier unterstützten wir gerade zu Beginn der Pandemie viele Menschen bei der Beantragung von Sozialleistungen.

Hat sich die Zielgruppe in Ihrer Beratung in den vergangenen Jahren verändert?

Die Zielgruppen haben sich nicht wesentlich verändert. Überschuldung tritt in allen Bevölkerungsgruppen auf – unabhängig vom Alter und vom sozialen Status.

Auch die steigenden Mieten dürften mehr Menschen in die Schulden treiben.

Die Wohnungsproblematik ist ein großes Thema in der Schuldnerberatung. Gerade hohe Betriebskosten belasten die Mieter. Aufgrund des Wohnungsmangels haben viele Leute auch ein Problem, überhaupt eine Wohnung zu finden, insbesondere dann, wenn die Schufa ein Negativmerkmal aufweist. Die Gefahr von Mietschulden ist nicht zu unterschätzen. Es kommt häufig vor, dass viele Schuldnerinnen aus Angst zuerst eine Zahlung an das Inkassobüro vornehmen, das mit einem Brief gedroht hat, und ihre Miete nicht überweisen. Gerät die Miete mit mehr als zwei Monaten in Rückstand, kann der Vermieter kündigen. Wir versuchen immer, dass die sogenannten Primärkosten wie Miete und Energie zuerst bezahlt werden.

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Kommt es oft vor, dass Menschen pleite sind, weil sie einfach zu viel einkaufen?

Der Konsum ist der Motor unserer Wirtschaft. Das können wir durchaus kritisch sehen. Wer lässt sich nicht gern verführen durch die bunte Warenwelt? Insbesondere, wenn Einkäufe über Kredit oder Zahlungskarten erfolgen, besteht eine große Gefahr der Überschuldung. Das wissen die Unternehmen und nehmen dieses Risiko der Überschuldung bei ihren Kunden in Kauf

Werden Sie von Ihren Klienten manchmal angepumpt?

In der Regel wollen die Klienten, die zu uns kommen, einen Rat oder Hilfe, um ihre Schulden zu bewältigen. Es steht dort nicht im Vordergrund, dass wir ihnen dafür Geld geben sollen. In absoluten Notlagen haben wir aber auch vereinzelt Geld ausgezahlt oder, was bei uns häufiger vorkommt, in besonderen Lebenslagen Stiftungsmittel beantragt.

Den Dispo hat wohl fast jeder schon mal ausgereizt. Ab wann gilt man als „überschuldet“?

Als überschuldet gilt jemand, der über einen längeren Zeitraum mit seinen Einnahmen nicht mehr alle Ausgaben tätigen kann. Die kurzfristige Überziehung eines Dispo-Kredites würde ich nicht als Überschuldung bezeichnen. Doch wenn der Kredit über einen längeren Zeitraum immer voll ausgeschöpft ist, besteht natürlich die Gefahr, dass gerade bei unvorhersehbaren Ereignissen eine Überschuldung eintritt. Ich kann es statistisch nicht belegen, aber ich gehe davon aus, dass viele von uns – und ich will mich da gar nicht ausnehmen – nicht genügend Rücklagen für unvorhersehbare Ereignisse haben.

Wie helfen Sie den Menschen, die zu Ihnen kommen?

Unsere Rolle bei der Hilfe für die Menschen kann sehr unterschiedlich sein. Wir unterstützen sie zum Beispiel bei der Beantragung von Sozialleistungen und bei der Wahrung ihrer Rechte gegenüber den Gläubigern oder helfen ihnen, den Weg in ein Insolvenzverfahren zu gehen. Es gibt aber auch Situationen, die erst einmal aussichtslos erscheinen. Hier versuchen wir, den Leuten trotzdem Mut zu machen und einen Weg zu finden, wie man mit den Schulden leben kann. Für Jugendliche haben wir entsprechende Bildungsangebote entwickelt, um auf die Gefahr von Überschuldung hinzuweisen.

Fordern Sie die Menschen auf, ihre Schulden nicht mehr zu bezahlen, bis eine Lösung gefunden ist?

Unser erstes Ziel ist es immer, eine Lösung für beide Seiten, das heißt: für Schuldner und Gläubiger zu finden. Jeder Schuldner hat natürlich das Recht, einen Teil seines Einkommens für die Sicherung des Lebensunterhaltes zu behalten. Dadurch müssen zur Sicherung der Lebensgrundlage auch Zahlungen erst einmal eingestellt werden.

Wie läuft die Beratung ab und wann gilt sie als abgeschlossen?

Schulden sind oft nur ein Symptom einer größeren Problemlage. In einem Erstgespräch, das auch online erfolgen kann, klären wir gemeinsam mit dem Betroffenen die aktuelle Situation. An erster Stelle schauen wir auf die Sicherung des Lebensunterhaltes. Wir versuchen, dass für die Klärung der Notlage keine größeren Wartezeiten auftreten. Gerade bei Mietschulden versuchen wir, möglichst schnell Regelungen zu treffen. Die Regulierung anderer Schulden ist oft ein längerfristiger Prozess, der mehrere Termine erfordert. Auch die Vorbereitung eines Insolvenzantrages nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Die Ratsuchenden entscheiden in der Regel selbst, wann sie wieder ohne Unterstützung durch uns auskommen. Nach einer Einigung mit den Gläubigern oder der Insolvenzantragstellung ist die Beratung abgeschlossen. Manchmal treten jedoch auch danach noch Fragen auf, die wir klären.

Welche Rolle spielen Kredite der Banken bei den Schuldnern?

Die Rolle der Banken ist sehr unterschiedlich und nicht immer richtig einschätzbar. Wir haben aber den Eindruck, dass eine verantwortliche Beratung nicht immer stattfindet und auch Kredite vergeben werden, die mit einem hohen Risiko behaftet sind. Das trifft vor allem bei sogenannten Umschuldungskrediten zu.

Wie erleben Sie die Klienten, die zu Ihnen kommen? Gibt es Klienten jeden Alters?

Viele Klienten, die zu uns kommen, haben Angst und Scham. Sie erhalten oft viele Briefe, zum Beispiel von Inkassobüros oder Rechtsanwälten, die sie aus Angst nicht öffnen. Überschuldung tritt in allen Altersgruppen auf. Besonders häufig betroffen ist die mittlere Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren. Es sind Leute, die berufstätig sind und ihren Lebensstandard auch durch Kredite finanziert haben. Viele Kinder in den Familien sind von der Überschuldung mit betroffen.

Was sagen Sie den Menschen, die Scheu und Scham haben, sich in ihrer vermeintlich aussichtslosen Lage Hilfe zu holen?

Jeder von uns kann in eine schwierige Situation kommen. Unvorhersehbare Ereignisse, zum Beispiel eine Erkrankung oder auch die Trennung vom Partner oder der Partnerin, bringen eine stabile Lebenssituation aus dem Gleichgewicht. Gerade in einer Krise benötigt man Hilfe und Unterstützung, und es ist besser, rechtzeitig Beratungsangebote beziehungsweise Hilfsangebote anzunehmen, damit sich die Situation nicht verschlimmert.