Nach dem Fall Leonie - Hunderte Hinweise auf Gewalt gegen Kinder
Greifswald / Lesedauer: 3 min

Ralph Sommer
Das Schicksal der sechsjährigen Leonie aus Torgelow, die von ihrem inzwischen wegen Mordes verurteilten Stiefvater David H. monatelang misshandelt und im Januar 2019 totgeprügelt wurde, hatte landesweit Entsetzen ausgelöst. Gut zwei Jahre danach zeigt die Statistik, dass sich seitdem bei vielen Menschen die Sensibilität für Anzeichen von Kindeswohlgefährdungen im Landkreis Vorpommern-Greifswald erhöht hat.
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Deutlich mehr Warnungen bei Polizei und Jugendamt
Im Jahr 2018 hatte es nach Angaben von Landrat Michael Sack (CDU) noch 743 entsprechende Verdachtsmeldungen gegeben. Ein Jahr später waren es schon 1.103. Und im ersten Corona-Jahr 2020 lieferten alarmierte Zeugen an das Jugendamt 977 Hinweise, die 1.299 Kinder betrafen. Seit Jahresbeginn seien es schon wieder 212 Meldungen gewesen, sagt Sack. Besonders dramatisch sei der Anstieg in den Bereichen Anklam und Pasewalk gewesen. Weniger schlimm fielen die Meldungen am Standort Greifswald aus.
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Jeder fünfte Hinweis kommt anonym
Gut ein Viertel Hinweise kam dabei von anderen Behörden – etwa der Polizei, den Gerichten und der Staatsanwaltschaft. Aber auch in der Öffentlichkeit sei die Sorge um das Wohl der Nachbar-Kinder gestiegen, sagt der Landrat. „Anonyme Meldungen nehmen inzwischen einen Anteil von 19,5 Prozent ein.“
Die Hinweise würden von den Jugendämtern geprüft. In knapp zwei Drittel der Fälle stellten diese im vergangenen Jahr Handlungsbedarf fest. In 13,3 Prozent konstatierten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter einen klaren Fall von Kindeswohlgefährdung. Bei 3,8 Prozent handelte es sich um latente Gewalt gegen Kinder, in 47,3 Prozent aller gemeldeten Fälle sahen die Experten zumindest Hilfe- und Unterstützungsbedarf.
Rechtsmediziner helfen in vielen Fällen
„Nach dem Fall Leonie hat sich die Anzahl der erforderlichen ambulanten oder teilstationierten Hilfen fast verdoppelt“, konstatiert Sack. Seien es 2018 noch 17 entsprechende Hilfen gewesen, so seien 2019 sogar 72 Hilfen eingeleitet worden. Und 2020 mussten erneut 48 derart konsequente Schritte eingeleitet werden.
Große Unterstützung erhalten die Jugendämter inzwischen von der Kinderschutzambulanz der Unimedizin Greifswald. „Anders als die Jugendamtsmitarbeiter dürfen die Greifswalder Rechtsmediziner gleich vor Ort bei den Hausbesuchen Untersuchungen an den mutmaßlich gewaltsam oder sexuell misshandelten Kindern vornehmen“, sagt Sack.
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Allein im vergangenen Jahr seien so im Landkreis Vorpommern-Greifswald insgesamt 66 Kinder und Jugendliche im Auftrag von Jugendämtern, Kinderkliniken oder Erziehungsberechtigten begutachtet worden.
Hälfte der Fälle betrifft Babys und Kleinkinder
Besonders erschreckend: Fast 51 Prozent aller Fälle entfielen auf Säuglinge und Kleinkinder unter vier Jahren. Weitere rund 17 Prozent betraf Kinder im Grundschulalter zwischen sechs und elf Jahren. Und nach Einschätzung der Mitarbeiter der Jugendämter haben nur wenige dieser Fälle mit den gegenwärtigen Einschränkungen während des Corona-Lockdowns zu tun. „Wir erleben hier leider einen sehr traurigen allgemeinen Trend,“ unterstreicht der Landrat.
Der Einsatz der Kinderschutzambulanz des Greifswalder Instituts für Rechtsmedizin, das diesbezüglich auch in den Landkreisen Vorpommern-Rügen und Mecklenburgische Seenplatte tätig ist, habe sich 2020 sehr bewährt, lobt Sack. Er gehe davon aus, dass die Zahl der Untersuchungen wie in den Vorjahren weiter ansteigen werde.