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Taraxagum Lab

So läuft es mit der Löwenzahn-Forschung von Reifen-Riese Continental

Anklam / Lesedauer: 12 min

In Anklam forscht Continental an Löwenzahn-Kautschuk für Reifen. Der Standortleiter Dr. Carsten Venz und Dr. Carla Recker geben im Interview Einblicke in ihre Arbeit.
Veröffentlicht:18.12.2021, 16:43

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Weithin sichtbar strahlt das Gelb des Forschungslabors vom Dax-Konzern Continental am Anklamer Stadtrand über die vorpommerschen Felder. Seit 2018 ist das „Taraxagum Lab Anklam“ in Betrieb. Was im Gebäude geschieht, da hält sich der Reifen-Riese gerne bedeckt. Geforscht wird an Naturkautschuk aus Löwenzahn. Es soll eine ganz große Nummer werden, die auch das Land Mecklenburg-Vorpommern schon in der Forschung mit üppigen Millionenbeträgen unterstützen will.

Jüngst war das Continental-Team sogar für den Innovationspreis des Bundespräsidenten nominiert – eine große Ehre für die Forscher. Der Anklamer Standortleiter Dr. Carsten Venz und Dr. Carla Recker, Leiterin des Fachgebiets Materialchemie des Reifenbereichs bei Continental, gaben dem Nordkurier Einblicke in ihre Arbeit.

Wie sieht der aktuelle Stand im Continental-Forschungslabor in Anklam aus?

Dr. Carsten Venz: Vom Berufsbild her arbeiten hier Menschen mit einem Ingenieurs- oder technischen Hintergrund. Wir beschäftigen Verfahrenstechniker, Agraringenieure, technische Mitarbeiter aus dem Bereich Industriemechaniker oder Mechatroniker und wir haben mittlerweile auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Labor – sowohl Lebensmitteltechnologen als auch Chemielaboranten.

Wir beschäftigen in der aktuell laufenden Kampagne rund 20 Saisonkräfte zusätzlich zum Stammpersonal. Wir haben den Standort nach und nach so entwickelt, dass mittlerweile ungefähr 15 Personen hier arbeiten, wobei die Anzahl etwas schwankt, weil wir auch Doktoranden und Masterstudenten beschäftigen.

Dr. Carsten Venz ist der Continental-Standortleiter in Anklam.
Dr. Carsten Venz ist der Continental-Standortleiter in Anklam. (Foto: ZVG/Continental)

Ist denn der technische Aufbau nun soweit abgeschlossen? In den vergangenen Jahren wurde ja immer wieder berichtet, dass sie da noch viel ausprobieren?

Dr. Carla Recker: Wir befinden uns mitten in den Forschungsarbeiten. Denn bei unserem langfristig angelegten Löwenzahn-Projekt ist ein langer Entwicklungsprozess nötig, um die Grundlage für spätere industrielle Abläufe zu schaffen. Unsere Zutaten wie Löwenzahn oder auch die notwendigen Maschinen für Aussaat und Ernte können wir nirgendwo bestellen. Das heißt, wir müssen vieles erst entwickeln, um dann später die Herstellungsprozesse auch hochskalieren zu können. Klar ist, wir wollen irgendwann größer werden. Das dauert aber seine Zeit.

2016 fiel der Startschuss, da wurde von circa acht Jahren als Forschungsstandort gesprochen, ehe ein Ausbau erfolgen kann. Wie schätzen sie da den aktuellen Stand ein?

Recker: Es ist immer die Frage, wann man anfängt zu zählen – beginnt man mit dem Entschluss oder dem Einzug. Nach Letzterem haben wir erst kürzlich unseren dritten Geburtstag am Anklamer Standort feiern können. Von daher sind wir noch deutlich in der Forschungszeit.

Dr. Carla Recker ist Leiterin des Fachgebiets Materialchemie des Reifenbereichs bei Continental.
Dr. Carla Recker ist Leiterin des Fachgebiets Materialchemie des Reifenbereichs bei Continental. (Foto: ZVG/Continental)

Als Außenstehender ist es schwer, in diese Arbeit einen Einblick zu gewinnen. An welchem Punkt stehen sie aktuell aus Ihrer Sicht? Anfangs wurde der Ablauf in etwa erklärt, dass zunächst der landwirtschaftliche Anbau gesichert funktionieren muss, ehe dann der Verarbeitungsprozess verbessert wird, um am Ende in eine Massenproduktion zu kommen.

Recker: Wir leisten Pionierarbeit bei unserem Projekt, Naturkautschuk aus Löwenzahn zu gewinnen. Wir können ja quasi nichts, was wir auf unserem Weg benötigen, von Dritten beziehen. Das fängt mit der Züchtung der Pflanze an, geht über die Saatgutgewinnung und den Anbau, die Pflege der Kultur, die Ernte und den anschließenden Extraktionsprozess bis zur Herstellung des Naturkautschuks. Es gibt keine Erfahrungswerte, alles müssen wir lernen.

Bei der Züchtung sind unsere Partner, das Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie IME sowie die Universität Münster bislang sehr gut vorangekommen. Wir haben bereits Nachfolgezüchtungen von der ersten Generation im Feld stehen. Dennoch ist es so, dass wir mit der Züchtung noch längst nicht am Ziel sind. Die letzte Pflanze, die aus einem Unkraut heraus kultiviert worden ist, war die Zuckerrübe. Das ist 150 bis 200 Jahre her und selbst dort wird heute noch geforscht. Genau wie für alle anderen Feldfrüchte wie Mais und Getreide, die schon viel länger angebaut werden. Das heißt, wir entwickeln uns da Schritt für Schritt weiter.

Und wir müssen dann vor allem die Anbauflächen hochfahren, was auch nicht von heute auf morgen geht. Wir können nicht auf einen Schlag sagen, wir brauchen jetzt Tausende Hektar Löwenzahn. Dazu benötigen wir Landwirte, die uns unterstützen, als auch Saatgut und die entsprechenden Maschinen. Das ist durchaus ein langsamer Prozess, aber wir sind da auf einem guten Weg. Wir wachsen jährlich, was alle Faktoren angeht, obwohl wir noch ein Forschungsstandort sind, in dem es in erster Linie darum geht, Erkenntnisse zu gewinnen, anhand derer wir den industriellen Einstieg richtig planen können.

Am 13. November 2017 erfolgte der Spatenstich für das neue Continental-Labor in Anklam.
Am 13. November 2017 erfolgte der Spatenstich für das neue Continental-Labor in Anklam. (Foto: Carsten Schönebeck/NK-Archiv)

Vom Prinzip her existiert aber immer noch der Ansatz: Wir haben in Anklam das Forschungslabor, hier arbeiten sie bereits mit den Landwirten zusammen und in Anklam soll später dann folgerichtig auch die Produktion mit angesiedelt werden?

Recker: Diese Entscheidung ist noch nicht gefallen. Das wäre jetzt auch zu früh, da die Randbedingungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar sind. Aber wir sind guten Mutes, dass die Region um Anklam ein guter Standort ist, für unsere derzeitigen Forschungsarbeiten ist die Region das allemal.

Wir haben jetzt viel über den Anbau gesprochen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den örtlichen Landwirten? Können sie da einen Einblick geben, wo kommt der Löwenzahn für ihre Forschung aktuell her?

Recker: Die Zusammenarbeit funktioniert ausgesprochen gut. Wir haben zurzeit ein gutes Dutzend Landwirte in unserem Netzwerk. In der Landwirtschaft beobachten wir ein zunehmendes Interesse, jetzt mit uns zu lernen, um bei einem industriellen Einstieg Teil des Teams zu werden.

Zum überwiegenden Teil kommt der Löwenzahn aus der Anklamer Region. Wir nutzen dazu auch andere Standorte, um zu lernen. Denn überall ist die Bodenbeschaffenheit anders, die Witterungsbedingungen unterscheiden sich. Die Unterschiede, die sich hieraus ergeben, müssen wir verstehen. Wir haben deshalb auch Forschungsfelder, die ein bisschen weiter weg sind, aber letztendlich sind alle Felder in Deutschland angesiedelt und der überwiegende Teil davon befindet sich in der Anklamer Region. Das hat natürlich auch logistische Gründe. Wenn wir, um einen Acker genauer anschauen zu können, einen Fahrtweg von beispielsweise zehn Stunden hätten, wäre das nicht sinnvoll.

Venz: Wir bekommen auch immer wieder Anfragen von Landwirten außerhalb des Anklamer Raums, die wir jedoch meistens abschlägig beantworten müssen, da wir mit unserem Netzwerk, das wir uns aufgebaut haben, zurzeit ausreichend versorgt sind.

Was waren bis jetzt die größten Herausforderungen, die sich ihnen bei ihrer Arbeit gestellt haben?

Recker: Eine der größten Herausforderungen ist für uns, wie bei jedem landwirtschaftlich geprägten Prozess, das Wetter. Wenn wir auf dem Acker ein schlechtes Jahr haben, dann ist es für alle weiteren Teile der Prozesskette schwer. Das trifft etwa zu, wenn wir mit dem Erntegut nicht die angepeilte Menge oder die erwünschte Qualität erreichen. Wir hatten 2019 und 2020 zum Beispiel zwei sehr trockene Jahre. Das war dieses Jahr besser. Wir sind daher zuversichtlich, dass die diesjährige Ernte besser wird. Die läuft derzeit aber noch, deshalb können wir aktuell noch kein abschließendes Ergebnis präsentieren.

Können sie etwas zu den Erntezeiten sagen. Sind diese vergleichbar mit der Zuckerrübe?

Recker: Genau, wir fangen im Frühjahr mit der Aussaat an und ernten möglichst spät im Herbst. Wie bei der Zuckerrübe, haben wir einen sehr zeitigen Erntetermin im Logistikplan. Je weiter das Jahr voranschreitet, hat man dagegen wieder eher das Risiko, dass das Wetter nicht mehr so mitspielt.

Auf einem Feld bei Stretense wurde damals am 19. April 2018 die erste Aussaat von russischem Löwenzahn vorgenommen.
Auf einem Feld bei Stretense wurde damals am 19. April 2018 die erste Aussaat von russischem Löwenzahn vorgenommen. (Foto: Carsten Schönebeck/NK-Archiv)

Wie weit sind sie mit der Forschung an der späteren Produktion und der anschließenden Verwertung bislang vorangekommen?

Recker: Wir sind ein Forschungsstandort und es geht uns darum, Erkenntnisse zu sammeln, die uns später dazu dienen, die Prozesse zu skalieren. Dafür ist es wichtig, alle einzelnen Schritte gut zu kennen und auch Einflussfaktoren zu betrachten. Dazu zählt zum Beispiel die Auswirkung der Qualität des Erntegutes auf den folgenden Verarbeitungsprozess. Mit jeder Ernte lernen wir dazu. Das benötigt Zeit.

Manchmal funktioniert ein Versuch auch nicht. Das muss aber auch so sein, weil wir durch die Negativkontrolle erfahren, welche Parameterbereiche in diesem Prozess eben nicht funktionieren. All das erforschen wir gerade noch. Seit 2019 haben wir bereits unseren Fahrradreifen Urban Taraxagum im Markt. In diesem Reifen verwenden wir Löwenzahn-Kautschuk aus unserem Forschungslabor in Anklam.

Die Fahrradreifen sind dann entsprechende die Vorstufe, um daraus später weitere Produkte zu entwickeln?

Recker: Auch hier müssen wir natürlich lernen, ob es weitere Einflussfaktoren gibt in der Industrialisierung. Viele Dinge, die im Labor im kleinen Maßstab funktionieren, zeigen sich dann hinterher anders, je größer eine Produktion angesetzt wird. Dafür nutzen wir gerade jede Gelegenheit. Unser erster in Serie gefertigter Fahrradreifen aus Löwenzahn-Kautschuk zeigt, dass marktfähige Produkte mit Naturkautschuk aus der Löwenzahnpflanze möglich sind.

Aus dem Löwenzahnkautschuk sollen später aber nicht nur Fahrradreifen produziert werden, sondern er ist von der Wertigkeit so gut, dass sich auch andere Produkte daraus herstellen lassen?

Recker: Löwenzahn-Kautschuk hat sich herkömmlichen Alternativen gegenüber als äquivalent in seinen Eigenschaften erwiesen. So haben wir die Eignungsprüfung bereits erfolgreich mit Prototypen für Pkw- und Lkw-Reifen sowie für andere Bauteile aus Naturkautschuk – beispielsweise in Motor- oder Schwingungslagern absolviert.

Am Ende des Tages ist das eine Frage der Verfügbarkeit. Denn ein Lkw-Reifen ist viel größer als ein Fahrradreifen. Wenn wir einen Lkw-Reifen in Serie fertigen möchten, bräuchte es ganz andere Mengen, um sinnvoll einen Markt bedienen zu können. So weit sind wir aktuell noch nicht.

In der Lauffläche des Reifen ist Naturkauschuk aus Löwenzahn verarbeitet. Fahrradreifen wurden schon produziert, auc
In der Lauffläche des Reifen ist Naturkauschuk aus Löwenzahn verarbeitet. Fahrradreifen wurden schon produziert, auc (Foto: Stefan Sauer (Archiv))

Um auf den Anklamer Standort zurückzukommen, wie funktioniert es eigentlich mit der Fachkräftegewinnung. Das war am Anfang ja auch eine Frage, ob sich ein Labor wie dieses in der Region überhaupt mit ortsansässigen Fachleuten aufbauen lässt?

Venz: Es ist teilweise die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Für die beiden Laborantenstellen haben wir schon eine ganze Zeit lang gesucht. Wir brauchen gerade im Labor Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Spaß an Neuland und Eigenständigkeit haben. Bei den technischen Kolleginnen und Kollegen gestaltet sich diese Frage etwas einfacher. Insgesamt gewinnen wir nach wie vor sehr gute Fachkräfte und haben auch schon einige von Anklam und der Umgebung überzeugen können. Ein Umzug hierher ist durchaus attraktiv!

Gibt es da auch Zusammenarbeiten mit den Hochschulen und Fachhochschulen der Region?

Venz: Wir haben da durchaus unsere Fühler ausgestreckt. Zum einen haben wir eine Kooperation mit der Uni Rostock, wo wir zwei externe Promotionsstellen finanzieren. Wir haben aber auch mit der Hochschule Neubrandenburg, speziell mit dem Zentrum für Ernährung und Lebensmitteltechnologie, schon zusammengearbeitet. Wir geben also wissenschaftliche Aufgaben ab und an auch nach außen, die dann für uns bearbeitet werden.

Um einen Ausblick zu geben, was wären die nächsten Schritte aus ihrer Sicht? Was steht etwa im nächsten Jahr auf der Agenda?

Recker: Wir sammeln weiter Erfahrungen. Wir brauchen noch ein paar Jahre, in denen wir Prozesse auch einfach wiederholen, um damit gesichert sagen zu können, was funktioniert. Wir haben jedes Jahr anderes Wetter und sind von so vielen Faktoren abhängig, dass wir erst mit einer gewissen Kontinuität sagen können, dass das, was wir glauben zu wissen, auch wirklich gelerntes Wissen ist und kein Zufallsprodukt, beeinflusst durch Parameter, die wir bis jetzt noch gar nicht kennen. Wir haben nur einen Versuch pro Jahr, das muss man dabei bedenken.

Wie sehr hat es sie gefreut, dass sie in diesem Jahr für den Deutschen Zukunftspreis des Bundespräsidenten nominiert waren?

Recker: Für das ganze Team in Anklam, Hannover und Münster war es eine große Ehre, nominiert zu werden. Das ist nur wenigen Forscherinnen und Forschern in Deutschland vorbehalten. Die Resonanz in verschiedensten Kreisen ist erstaunlich. Das ist eine Reichweite, die man normalerweise nicht hat, und deshalb macht es uns unheimlich stolz, zum Kreise der Besten des Zukunftspreis 2021 zu gehören.

Vielleicht daran angeschlossen: Wenn man die Aufmerksamkeit jetzt hat, was muss die Politik eigentlich noch liefern? Die Ansiedlung des Forschungslabors wurde durch das Land Mecklenburg-Vorpommern mit einer großen Millionensumme bedacht. Was wären da die nächsten Schritte oder auch Investitionssummen?

Recker: Continental engagiert sich finanziell mit einem hohen Betrag in diesem Projekt. Für die Unterstützung und die guten Rahmenbedingungen hier in Mecklenburg-Vorpommern sind wir sehr dankbar.

Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass die Forschungsförderung in Deutschland langfristiger angelegt erfolgt. Ein Beispiel: Normalerweise müssen alle drei oder fünf Jahre neue Anträge für Projektförderungen gestellt werden. Das ist für viele Forschungsprojekte ein sehr überschaubarer Zeitraum. Häufig sind Forschungsprojekte aber von diesen Förderungen durch die öffentlich Hand abhängig. Das sorgt dafür, dass oftmals bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Partnern, die an solchen Projekten arbeiten, viel persönliche Unsicherheit mitschwingt.

Venz: Wenn ich mir etwas von der Lokalpolitik wünschen darf, ist es ein Fahrradweg, den viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von uns täglich vermissen, wenn sie auf dem Arbeitsweg zum Labor während der Zuckerkampagne mit den Rübenlastern auf einer Straße konkurrieren müssen.

Eine Frage für die Anklamer: Einblicke in Forschung zu geben, ist immer ein schwieriges Thema, weil ihre Arbeit einen hohen Geheimhaltungsfaktor hat. Dennoch ist die Neugierde natürlich groß.

Venz: Das große Interesse in der Region wissen wir sehr zu schätzen. Gleichzeitig müssen wir viel Wert auf Geheimhaltung legen. Etwas Ähnliches wie die Führungen, die in der Zuckerfabrik angeboten werden, wird es vielleicht mal geben, wenn unsere Forschung ein etabliertes Verfahren ist. Dafür bitten wir um Verständnis.

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