Was hinter der Anzeige gegen Dirk Scheer steckt
Anklam / Lesedauer: 8 min

Ein privates Wohnhaus in einer Greifswalder Nebenstraße. Vor rund einem Jahr stand am Klingelschild noch „Wahlkampfbüro“, heute steht dort „Windenergie“. Kreis-Dezernent Dirk Scheer hat sich dort ein privates Büro eingerichtet. Scheer wollte hoch hinaus. Landrat werden, als parteiloser Kandidat. Er scheiterte. Wenn er gewusst hätte, was diese Kandidatur, was dieser Wahlkampf mit sich bringt, sagt er heute, dann hätte er es wohl gar nicht erst versucht.
Seit zwei Wochen ist bekannt, dass die Staatsanwaltschaft gegen Scheer ermittelt. Da wird von Unschuldsvermutung gesprochen, davon, dass es sich lediglich um einen Anfangsverdacht handle. Aber der Vorwurf sitzt: Untreue und Vorteilsnahme, sein Name, sein Gesicht, seine Funktion als Sozialdezernent im Kreis Vorpommern-Greifswald. „Ich bin froh, dass Ferien sind und die Kinder gerade nicht in die Schule gehen“, sagt er. Wie er überhaupt viel von den Dingen sagt, die Menschen in seiner Situation eben noch sagen können. Dass er froh sei, dass die Staatsanwaltschaft nun ermittelt. Nach all der Zeit, in der Gerüchte waberten. Nach all der Zeit, in der erklärte politische Gegner mit internen Ermittlungen gegen ihn befasst waren und Unregelmäßigkeiten bei Auftragsvergaben im Dezernat diskutiert wurden. „Am Ende wird klar werden, dass an den Vorwürfen nichts dran ist. Dann habe ich es schwarz auf weiß“, sagt Scheer.
Hinter den Kulissen wird das Fell bereits verteilt
Doch während die Geschichte von der Intrige noch plausibel schien, als er vor einem Jahr im Wahlkampf steckte und die Affäre um die Auftragsvergaben ihren Anfang nahm, ist die Lage jetzt eine andere. Denn seinen Job als einflussreicher Dezernent, den wird er wohl eh bald los sein – egal, wie die Ermittlungen ausgehen. Scheers Amtszeit läuft Ende des Jahres aus. Im September – direkt nach der Sommerpause – entscheidet der Kreistag über die Besetzung. Landrat Michael Sack (CDU) lässt wenig Zweifel daran, dass er den einstigen Konkurrenten loswerden will. Zuletzt sorgte er dafür, dass Scheers Kompetenzen beschnitten und Aufgaben, mit denen Scheer glänzen konnte, an die CDU-Kollegen in der Landkreis-Führung gingen.
Wer Dezernent wird, das entscheidet offiziell nicht Michael Sack. Er kann ihn auch nicht entlassen oder freistellen, so wie das kürzlich einem engen Mitarbeiter Scheers geschehen ist. Scheer könnte gegen den Willen des Landrates erneut kandidieren, dochder Parteilose ist de facto chancenlos. Mit seiner Kandidaturals Landrat – gegen den späteren Gewinner Michael Sack – hat er den Christdemokraten politisch vor das Schienbein getreten. Schon im Vorfeld hieß es aus CDU-Kreisen: Wenn Scheer wirklich antritt, werde man das nicht verzeihen.
Formale Fehler oder böse Absicht?
Die CDU, immer noch stärkste Kraft in Vorpommern-Greifswald, braucht aber neue Partner, um im Kreistag weiter den Ton anzugeben. In den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen ist so ein Dezernentenamt ein Pfand, für das man viel politische Loyalität verlangen kann. Scheer, der bei Parteien immer wieder aneckte, spielt in solchen Überlegungen keine Rolle mehr. Andere Kandidaten positionieren sich längst. Mit einer Reform der Verwaltungsstruktur wurde ein neuer leitender Posten in Scheers Dezernat geschaffen – und der ging jüngst an Kathrin Potratz-Scheiba, die nebenbei im Kreisvorstand der SPD sitzt. Warum also jetzt noch nachtreten, wenn Scheer doch schon am Boden liegt? Vielleicht, um ungeklärte Fragen zu beantworten. Dass bei der Auftragsvergabe für das Software-Projekt SoJuS nicht immer nach Vorschrift gehandelt wurde, da sind sich viele einig. Umstritten ist, ob es sich um rein formale Verstöße handelt, kleinere Versehen vielleicht – oder ob ein System dahinter steckte. Und wer davon hätte profitieren können.
Scheer kam einst als ehrgeiziger Reformer in die Verwaltung des Großkreises. Der ILSE-Bus im Nahverkehr, eine App für Lebensretter auf dem Land, eine neue Struktur für die Sozialberatung im Kreis. Für all das gab es Lob auf Landes- und Bundesebene, es gab Innovationspreise und Fördergelder. Seinen Kritikern aber gilt Scheer inzwischen als Effekthascher, der Projekte öffentlichkeitswirksam anschiebt, aber nicht zu Ende bringt. So erging es auch „SoJuS“. Mit der Software, die unter Scheers Leitung entwickelt wurde, sollte die Fallbearbeitung im Jugend- und Sozialamt schneller, effizienter und wirtschaftlicher werden. Das ist gelungen. Doch als die Software weiterentwickelt werden sollte, um auch anderswo zum Einsatz zu kommen, da fielen Unregelmäßigkeiten auf. Im Kern ging es um den Vorwurf, Scheer habe Aufträge freigegeben, bei denen die damalige Landrätin oder einer ihrer Stellvertreter hätten gegenzeichnen müssen. Ob diese Unterschriften schlicht vergessen oder ob tatsächlich hinter dem Rücken der Landrätin gehandelt wurde, ist bis heute unklar. Das alles reichte aber, um den Wahlkampf zu prägen und das Projekt im Frühjahr 2018 auf Eis zu legen. Inzwischen ist es komplett eingestellt, die Software wird im Kreis nicht mehr verwendet. Auch da müssen nun Juristen ran. Denn das Unternehmen, das an der Entwicklung beteiligt war, klagt gegen den Landkreis.
Wer bezahlte den Wahlkampf?
Diese formalen Fragen um SoJuS sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass all das auch mit Scheers Kandidatur und den Kosten für seinen Wahlkampf zusammenhängt. Dass er im Gegenzug für eigenmächtige Auftragsvergaben Spenden erhalten habe, um Flyer und Plakate zu finanzieren. Dass der betroffene Unternehmer zu Scheers persönlichem Freundeskreis zähle. Scheer bestreitet all das vehement und von Anfang an. Den beteiligten Unternehmer kenne er schon länger, aber nur als beruflichen Partner in verschiedenen Projekten. Es gebe keine persönliche Beziehung. Doch die Frage verfängt, wie sich ein Verwaltungsmitarbeiter einen Wahlkampf leisten konnte, der lange Zeit kaum hinter der Materialschlacht der CDU zurückstand. Zwischen 50 000 und 70 000 Euro dürfte das gekostet haben. Scheer verweist auf Freunde und Unternehmer, die seinen Wahlkampf unterstützt hätten. „Aber natürlich habe ich auch selbst viel Geld reingesteckt“, sagt er. Geld, das er auch mit alten Beteiligungen an einzelnen Windkraftanlagen in der Region verdient hat. Auch das hat ihm schon Kritik und Fragen eingebracht. Fragen, die er vielleicht gar nicht beantworten müsste, wenn er für eine Partei angetreten wäre.
Ein Zerwürfnis und viele Vorhaltungen
Doch nicht nur das Scheitern von SoJuS wird Scheer angelastet. Er selbst spricht von einem zerrütteten Verhältnis zum neuen Landrat. Der Todesfall der kleinen Leonie aus Torgelow sorgte zu Jahresbeginn für Wirbel im Jugendamt. Zumindest die verfehlte Krisenkommunikation der Behörde lastet der Landrat dem Dezernenten offen an. Wenn es um die Wahrnehmung der Kreisverwaltung in der Öffentlichkeit gehe, sei ein Fall von Kindeswohlgefährdung bedeutender als jedes Projekt, das Scheer in den vergangenen Jahren angeschoben habe, stichelte Sack im jüngsten Kreistag. Auch anderswo gab es zuletzt Ärger. Das Landessozialgericht übte fundamentale Kritik an Richtlinien des Kreises zum Umgang mit Empfängern von Sozialhilfe. Auch das Thema liegt in Scheers Verantwortungsbereich. Abteilungsintern verweist man darauf, dass die Auslegung und Rechtssprechung zu dem Thema deutschlandweit uneinheitlich und damit für die Behörden unkalkulierbar sei. So soll sich auch Scheer intern verteidigt haben.
Auffällig viele CDU-Zufälle
Selbst jetzt, da ein Teil der Vorwürfe bei der Staatsanwaltschaft liegt, gibt es aber auch die andere Seite der Wahrheit. Sogar einzelne CDU-Leute sehen den Feldzug gegen den Dezernenten kritisch und verweisen auf die vielen Zufälle. Als das Rechnungsprüfungsamt die Ungereimtheiten aufdeckte, geschah das unter dem damaligen Kreistagspräsidenten – Michael Sack. Als sich das Innenministerium einschaltete, war es Abteilungsleiter Jörg Hochheim, der dafür verantwortlich war, dass interner Schriftverkehr breit gestreut wurde. Auch er zählte einst im Landkreis zu den führenden Kräften der CDU. Als der Landkreis seinen Mitarbeiter schließlich bei der Staatsanwaltschaft Stralsund verdächtigte, arbeitete dort noch der Vize-Landesvorsitzende der CDU, Sascha Ott, der inzwischen selbst Mitglied des Kreistages ist.
Und nun? Für den Dezernenten-Job dürfte unerheblich sein, wie die Ermittlungen ausgehen. Scheer erwägt zu kandidieren, kann sich noch nicht damit abfinden, freiwillig aufzugeben. Er weiß, dass es kein Szenario gibt, in dem er nicht verloren hat. Doch mit seinen Ideen und Projekten galt er auch mal als Kandidat für wichtige Positionen in Schwerin. Das dürfte jetzt schwierig werden. An seinem Software-Projekt wollte sich zuletzt keiner mehr die Finger verbrennen. Wer will sich jetzt noch die Finger an Dirk Scheer verbrennen? Vielleicht bleibt ihm am Ende nur die Windkraft.