Krankheit bei Kindern

Wie Diabetes das Leben einer Familie in Lubmin verändert hat

Lubmin / Lesedauer: 9 min

Den Umgang mit der unsichtbaren Krankheit mussten von heut auf morgen auch Nele Kreutz aus Lubmin und ihre Eltern lernen – und dabei so manche Hürde meistern.
Veröffentlicht:03.02.2021, 09:34
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Von:
  • Author ImageDajana Richter
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Diabetes? Den haben doch nur alte Menschen oder jene, die aufgrund einer ungesunden Lebensweise zu viele Kilos auf die Waage bringen. Aber die Realität sieht anders aus. Denn auch immer mehr Kinder erhalten diese Diagnose. Sie erkranken allerdings seltener an der Typ-2-Diabetes, die oftmals durch einen gesünderen Lebensstil positiv beeinflusst werden kann. Die häufigste Form von Diabetes bei Kindern und Jugendlichen ist der Typ-1-Diabetes. Bei dieser Autoimmunerkrankung müssen Betroffene ihrem Körper lebenslang das blutzuckersenkende Hormon Insulin zuführen, denn Antikörper greifen die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse an und zerstören sie.

Nele Kreutz aus Lubmin war bei ihrer Diagnose 2017 erst sieben Jahre alt. Sie wurde damals immer dünner, fühlte sich matt. „Dann habe ich plötzlich angefangen sehr viel zu trinken und musste ständig auf die Toilette“, erinnert sich die heute Zehnjährige. „Zu dieser Zeit lebten wir noch in Bayern, wo es zu diesem Zeitpunkt extrem warm war“, berichtet ihr Vater Daniel Kreutz. „Und da haben wir das ganze auf die Hitze geschoben.“ Das bestätigt Mutter Nicole Kreutz: „Wir waren eher froh, dass sie bei dem Wetter genügend trinkt, denn eigentlich war sie ein schlechter Trinker.“

Doch dann verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand weiter und schließlich fuhren sie nach Landshut ins Krankenhaus. Dort stellten die Ärzte rasch fest: Nele hat Typ-1-Diabetes. Ein Schock für die Familie. „Nele hat das erst gar nicht richtig realisiert“, erinnert sich ihr Vater. „Sie dachte, sie sei halt krank und das gehe schon wieder weg. Doch irgendwann begriff sie, dass diese Krankheit für immer bleibt.“

Warum das Immunsystem gegen den eigenen Körper vorgeht, stellt Forscher noch immer vor ein Rätsel. Genetische Faktoren können eine Rolle spielen. „Wir haben in unseren Familien nachgeforscht, aber niemand hat Diabetes“, so die Mutter. Auch Infektionen, wie zum Beispiel Mumps oder Röteln, stehen im Verdacht, an der Entstehung dieser Erkrankung beteiligt zu sein. Doch letztendlich war bei Nele, wie bei so vielen anderen, kein definitiver Auslöser auszumachen.

Eineinhalb Wochen musste Nele im Krankenhaus bleiben, wo sie und ihre Eltern mittels intensiver Schulungen auf ihr neues Leben vorbereitet wurden. Der Neustart in den Alltag war dann trotzdem kompliziert. „Im Krankenhaus kann man schnell Rückfragen stellen“, sagt Daniel Kreutz. Doch zu Hause komme man oft in Situationen, wo man nicht mehr weiterweiß. Gerade die ersten Monate waren für die Familie sehr anstrengend, auch weil sie in Bayern keine weitere Unterstützung hatten.

„Nele konnte damals noch nicht allein ausrechnen, wie viel sie wann spritzen muss. Sie konnte sich die Spritzen, also die Pens, auch nicht alleine geben. Das alles zu managen war – parallel zur Arbeit – ein großes Hin und Her und purer Stress“, erinnert sich ihr Vater. Am Anfang ist die Mutter regelmäßig in die Schule gefahren, um Neles Werte zu messen und ihr Insulin zu spritzen. „Ich saß auch beim Sportunterricht auf der Bank, da man bei körperlichen Aktivitäten die Werte besonders genau im Blick behalten muss“, erklärt Nicole Kreutz. „Ich war in den ersten Wochen fast immer an ihrer Seite, auch nachts.“

Umzug von Niederbayern nach Vorpommern

„Schließlich haben wir doch die Reißleine gezogen und sind 2018 zurück nach Lubmin gezogen“, sagt Daniel Kreutz. „Ich bin hier aufgewachsen und meine Eltern wohnen noch hier. Sie sind uns eine große Unterstützung.“ Und nicht nur über die Hilfe der Großeltern ist die Familie froh. Auch die Nähe zum Klinikum Karlsburg, das auf Diabetes bei Kindern spezialisiert ist, ist ein klarer Pluspunkt.

Schon im Landshuter Krankenhaus wurde Nele zu einer Insulinpumpe geraten, da sie besonders bei jüngeren Kindern den Alltag erleichtert. Aber sowohl Nele als auch ihre Eltern waren zunächst nicht davon überzeugt. „Doch wir haben das Problem, das Nele bei ihren Blutzuckerwerten extreme Schwankungen hat. In Landshut wurde uns vorgeworfen, wir hätten uns beim Essen oder der Insulinmenge verrechnet. Zum Beweis haben wir dann ausführlich Tagebuch über alles geführt“, erzählt der Vater. „Auch Oberärztin Antonia Müller, die Kinderärztin in Karlsburg, war über diese Sprünge verwundert. Wir haben Tage, die sind super, und andere, an denen die Werte plötzlich aus dem Ruder laufen – trotz gleichem Tagesablauf und gleichem Essen. Der Langzeitzuckerwert war alles andere als zufriedenstellend.“

Dabei hat Neles Vater vor allem die möglichen Langzeitschäden im Blick, die durch einen andauernd hohen Zuckerwert begünstigt werden und fast jeden Bereich des Körpers betreffen können. Im schlimmsten Fall treten Herzinfarkte oder Schlaganfälle auf. Auch Nieren, Augen und Nerven können geschädigt werden. Deshalb wird auch Nele beim Arzt regelmäßig durchgecheckt.

Um eine kontinuierliche Insulinzufuhr zu gewährleisten, entschied sich Nele im vergangenen Sommer doch für eine Insulinpumpe. Diese trägt sie in einem Bauchgurt stets bei sich. Über einen dünnen Katheter und eine Kanüle, die unter die Haut gelegt wird, meist am Bauch oder Po, gelangt das über den Tag verteilt festgelegte Insulin in das Unterhautfettgewebe. Außerdem ist an ihrem Körper ein Sensor befestigt, der mittels feiner Nadel die Blutzuckerwerte misst und an die Pumpe überträgt. Zu den Mahlzeiten, die Nele vorab akkurat in das Gerät eingeben muss, verabreicht sich die Schülerin noch zusätzliches Insulin, dass für genau dieses Essen benötigt wird.

Mit der Diabetes-Diagnose hat sich der gesamte Alltag der Familie verändert. „Vor allem die Spontanität ist von jetzt auf gleich verloren gegangen“, sagt der Vater. „Wenn wir wegfahren, haben wir immer einen Rucksack mit Medizin dabei. Und bei Reisen müssen wir ganz genau abschätzen, wie viel Material wir benötigen und alle Eventualitäten einplanen.“ Bei ihren Mahlzeiten dreht sich nun alles um Broteinheiten (BE). Sie sind ein Maß für den Kohlenhydratgehalt eines Lebensmittels und wichtig für die Berechnung der Insulindosis. „Deshalb wiege ich schon sehr viel ab, gerade was die Standardessen betrifft“, erzählt Nicole Kreutz.

Wenn Betroffene ihr Leben nicht der Krankheit anpassen, kann es lebensgefährlich werden. Es droht eine Unterzuckerung (Hypoglykämie) oder einer Überzuckerung (Hyperglykämie). Gründe für eine Unterzuckerung können zum Beispiel zu wenig Kohlenhydrate oder ein zu hoher Energiebedarf aufgrund von Sport sein. Eine Überzuckerung wiederum kommt zum Beispiel vor, wenn vergessen wurde Insulin zu spritzen, während eines Infekts oder wenn die Insulinpumpe defekt ist.

Schulalltag für Nele nicht immer einfach

Mehr Wissen über die Krankheit und etwas mehr Engagement wünscht sich die Familie auch von so manchem Pädagogen. Denn gerade in der Schule würde Nele mit ihrem Diabetes und all dem, was damit zusammenhängt, bei einigen auf zu wenig Verständnis stoßen. „Wir haben zum Beispiel in der Schule in Erding, unserem früheren Wohnort, gemerkt, dass Neles Erkrankung den Lehrern ein Klotz am Bein war. Das es ihnen zu kompliziert war“, merkt der Vater an. Bei Ausflügen sei die Klasse eingeschränkter gewesen, auch die Lernzeiten hätten laut der Lehrer durch Nele nicht mehr so flexibel gestaltet werden können, weil sie ihre regelmäßigen Essenszeiten brauchte.

Seit dem Sommer 2018 geht sie in Greifswald zur Schule, mittlerweile in die fünfte Klasse. „Wir haben die Lehrer am Anfang über Neles Krankheit informiert und ihnen Material in die Hand gegeben, wo genau drinsteht, worauf sie achten müssen“, erzählt Daniel Kreutz.

Als sie im November mit der neuen Pumpe aus der Klinik kamen, hätten sie auch mit einigen Lehrern zusammengesessen, ihnen Neles neues Gerät erklärt und insgesamt ein sehr positives Gespräch geführt, ist Nicole Kreutz froh. Sie arbeitet gegenüber der Schule als Erzieherin und ist bei Nöten ein schneller Ansprechpartner. „Wir wollen die Lehrer bestmöglich unterstützten, um Nele alle schulischen Freiheiten zu ermöglichen“, betont ihr Vater. So konnte sie zum Beispiel nicht ohne Begleitung zum Schwimmunterricht, da aufgrund der hohen Kinderzahl kein dauerhafte Beobachtung von Nele gewährleistet werden konnte. „Deshalb bin entweder ich zur Überwachung hingefahren oder meine Eltern haben das übernommen.“

Eigentlich hat sich Nele in ihrer neuen Schule ganz gut eingelebt. Nur Freunde zu finden fällt ihr schwer. Viele würden zum Beispiel nicht verstehen, warum sie scheinbare Privilegien, wie das Essen im Unterricht, genießt. „Ich wurde schon oft von anderen Mädchen geärgert. Sie sagten Sachen wie: ‚Du hast Diabetes, du kannst nicht unsere Freundin sein.‘“, berichtet die Zehnjährige traurig. „Mich nerven auch Kommentare, wie zum Beispiel „Nele nimmt schon wieder ihre Drogen“, wenn ich Notfall-Gummitierchen gegen die Unterzuckerung essen muss.

Sehr viel wohler fühlt sich Nele hingegen bei den Kursen, die das Klinikum Karlsburg für von Diabetes betroffene Kinder anbietet. Bei einem Austausch unter Gleichgesinnten muss niemand mehr gegen Vorurteile ankämpfen oder sich erklären. „Die Sommerkurse sind so toll. Da habe ich auch meine beste Freundin Jessica kennengelernt“, erzählt sie aufgeregt. „Ich habe vier Freunde mit Diabetes. Leider wohnen wir ziemlich weit auseinander, so dass wir uns eher Nachrichten schreiben, statt uns zu treffen.“ Deshalb hofft sie, dass die Kurse in diesem Jahr wieder stattfinden können. Im vergangenen Sommer mussten sie coronabedingt ausfallen.

Daniel Kreutz würde sich wünschen, dass das Thema Diabetes bei Kindern mehr publik gemacht würde. Es gehe darum, die Leute zu sensibilisieren, dass es diesen Typ-1-Diabetes gibt und was damit zusammenhängt. Denn es ist eine Erkrankung, die man nicht gleich sieht. „Der Mensch ist auf den ersten Blick körperlich nicht eingeschränkt“, sagt Nicole Kreutz. „Deshalb wird die Krankheit von vielen nicht erkannt oder unterschätzt.“