StartseiteRegionalAnklamZurück ins Kriegsgebiet – Ukrainerin verlässt Jarmen unter Tränen

Abschied

Zurück ins Kriegsgebiet – Ukrainerin verlässt Jarmen unter Tränen

Jarmen / Lesedauer: 5 min

Raissa Bujakina kehrt zu Heimat und Familie zurück. Wohl wissend, dass sie mitten ins Kriegsgebiet fährt, das Gros ihrer Kinder und ihre Enkel aber bei uns in Sicherheit sind.
Veröffentlicht:20.07.2022, 17:36

Von:
  • Stefan Hoeft
Artikel teilen:

Was haben sie nicht geredet, die Töchter Natascha und Oksana, mit Engelszungen und Tränen versucht, ihre Mutter Raissa Bujakina umzustimmen. Und natürlich auch die neuen Freunde aus Jarmen und Umgebung, die die 65-Jährige seit Anfang März gefunden hat, als sie mit ihren Lieben in der Peenestadt ein Obdach fand. Doch Anfang der Woche hat sich die rüstige Seniorin auf den Rückweg in die Ukraine gemacht.

Lesen Sie auch: Bund erwartet langen Aufenthalt von Ukrainern

Gefahrvolle Reise in ungewisse Zukunft

Auf eine mehr als 2000 Kilometer lange Reise in eine eher ungewisse Zukunft, verbunden mit Gefahren für Leib und Leben. Dabei war sie eher zufällig gerade in Kiew bei ihrer Ältesten, als am 24. Februar der Krieg über das Land hereinbrach und die russischen Truppen dabei vor allem im Süden zügig vorrückten. Also genau dort, wo sich ihr Heimatort nahe Mykolajiw befindet, einer besonders umkämpften Großstadt. Deren Einnahme die eigene Armee zwar verhindern konnte, die aber bis heute immer wieder das Ziel gegnerischer Raketen geblieben ist. Und obendrein auf dem Weg nach Odessa liegt, das als letzte große Bastion gilt, falls es Russland tatsächlich auf eine komplette Besetzung der Schwarzmeerküste anlegt.

Mit Hilfstransport bis nach Jarmen

Damals ging Raissa nach einigen Bombentagen und -nächten im Keller eines Hauptstädter Kindergartens auf die Flucht gen Westen. Zusammen mit der Tochter und deren zwei Mädchen sowie Nina und ihren zwei Söhnen, letztere die Frau und Kinder des Cousins von Nataschas Gatten. Beide Männer sollen im derzeit hart umkämpften Donezker Gebiet dienen. Über Polen gelangten die sieben mit einem von Rostock aus organisierten Hilfstransport bis nach Jarmen, wo alle im kommunalen Wohnblock am Müssentiner Weg unterkamen, in einer kurz zuvor frisch renovierten und möblierten Drei-Raum-Wohnung in der Hausnummer 36. Sie ließen sich nur schwer überzeugen, dass es für deutsche Verhältnisse unvertretbar wäre, auch noch die später von Stettin aus nachgeholte Oksana mit ihrem Jungen und der Tochter samt deren bald dreijährigem Sprössling Valeria dort einziehen zu lassen. Letztlich nahmen sie nach einigen Diskussionen in Aufgang 38 Quartier, sprich in Rufweite.

Schnell Kontakte zu den Vorpommern geknüpft

Die ganze Familie zeigte sich überrascht und sehr glücklich über die herzliche Aufnahme und Anteilnahme in Vorpommerns Provinz, nutzte schnell die sich bietenden Gelegenheiten zum Knüpfen von Kontakten – von Gottesdiensten bis hin zu Ausflügen und Vereinsrunden. Sie beteiligten sich beispielsweise an der Aufräumaktion nach den Orkanschäden in den städtischen Anlagen ebenso wie am Frühlingsmarkt, besuchten gerne die von Lehrerin Ulrike Wiehler ehrenamtlich angebotenen Sprachkurse. Darüber hinaus fanden sie gerade in Angelika Thät, Malgorzata Raschke und Harry Erdmann äußerst rege Ansprechpartner bei den Problemen des alltäglichen Bedarfs. Sie und ihre Mitstreiter kümmerten sich sogar um Geschenke für die Geburtstagskinder unter den Flüchtlingen.

Ehemann kommt bei Austausch frei

Trotzdem blieben bei den Gästen die Gedanken an die Heimat und ihre Lieben dort weiter allgegenwärtig. Das Bangen um die im Frontbereich befindlichen Männer stellte und stellt eine zusätzliche emotionale Belastung dar. So fehlte zu Oksanas in Gefangenschaft geratenem Mann fast vier Monate jeglicher Kontakt, erst eine von russischer Seite veröffentlichte Datenliste habe Gewissheit über den Verbleib geschaffen. Jüngst kam die gute Nachricht, dass der Soldat bei einem Austausch mit der Gegenseite freigekommen ist. Und nicht wie anfangs befürchtet beide Beine verloren hat, sondern „nur“ an den Augen verletzt wurde.

Jüngste Tochter im Kriegsgebiet

Auch solche Nachrichten ließen in Raissa zunehmend den Entschluss reifen, wieder gen Ukraine zu reisen. „Ich weiß, dass ich es hier gut habe, aber mein Herz zieht mich zurück“, beschrieb die 65-Jährige ihre Gefühle in der Abschieds-Kaffeerunde. Zumal sie glaubt, dass gerade jetzt ihre jüngste Tochter sie besonders dringend braucht. Die 34-Jährige verharrte all die Monate im Kriegsgebiet, ihr Mann kam vor Kurzem mit einer Armverletzung von der Front zurück. Letztlich gibt der Mutter und Schwiegermutter auch die Gewissheit Kraft für diese Reise, dass ihre anderen Kinder, Enkel und die Urenkelin bei den Jarmenern in Sicherheit und gut versorgt sind. Von daher nutzte alles Bitten und Flehen nichts mehr, sie von ihrer Entscheidung zur Rückkehr abzubringen.

Direktbus ab Stettin

So ging es dann am Montag mit Peenestädter Begleitung und einigen Geschenken erst mal ins polnische Stettin, von wo aus regelmäßig Direktbusse in die Ukraine starten. Am heutigen Morgen, so der Fahrplan, soll ihre Linie in Kriwoy Rog ankommen, der Bergarbeiter- und Geburtsstadt des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Süden des Landes. Dort will ihre Tochter sie in Empfang nehmen, anschließend geht es zu deren Zuhause – noch weiter in Richtung der Frontlinien. Begleitet von den Hoffnungen der Angehörigen und Freunde in Jarmen, dass ihr dort nichts passieren möge und sich alle bald wieder sehen – möglichst gesund und in Frieden.