Interview mit Demminer Infektiologen

„Offizielle Zahlen sind nicht die letzte Wahrheit“

Demmin / Lesedauer: 8 min

Dr. German Horn leitet die Covid-Ambulanz am Demminer Krankenhaus und ist maßgeblich für den Kampf gegen Corona in der Region verantwortlich. Hier spricht er über schwierige Entscheidungen, die er treffen muss.
Veröffentlicht:08.04.2020, 22:00
Aktualisiert:

Von:
  • Author ImageKarsten Riemer
Artikel teilen:

Herr Dr. Horn, können Sie aufgrund Ihrer Studien- sowie Berufserfahrung als Experte für Viren bezeichnet werden?

Man könnte es folgendermaßen formulieren. Ich bin eine Person, die in der grundlegenden Virologie ausgebildet wurde. Experten sind aber andere Menschen.

Wie viele Covid-Patienten haben Sie bereits behandelt?

Sechs Patienten sind derzeit vor Ort in Behandlung oder wurden hier behandelt. Einer davon ist kritisch krank und wird auf der Intensivstation beatmet. Dann hatten wir einen älteren Herrn über 85 mit vielen schwerwiegenden Vorerkrankungen. Er ist letzten Endes leider an der Corona-Pneumonie verstorben. Einen älteren Herrn konnten wir entlassen. Seine Frau liegt neben weiteren Patienten derzeit auf der Covid-Station. Und dann haben wir auch tatsächlich Erkrankte unter dem Personal. Das liegt zum einen daran, dass es sehr schwierig ist, sich nicht zu infizieren, weil das Virus sehr ansteckend ist. Und zum anderen haben wir in letzter Zeit die Erkrankung auch bei Leuten entdeckt, wo wir es nicht erwartet hätten, da beispielsweise die Merkmale eines Verdachtsfalls, wie sie das RKI beschreibt, nicht gepasst haben. Aber mit dem Problem sind wir nicht alleine. Man rechnet aktuell bundesweit mit 2300 Infizierten im Gesundheitswesen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für sich als Mediziner in der aktuellen Krise?

Als Mediziner ergeben sich Herausforderungen wie bei anderen Pandemien auch. Ich war im Krisenstab der SARS-Krise in Marburg sowie dem der Schweinegrippe oder von EHEC. Die Probleme sind dabei zum einen, dass sie in der Falldefinition mit einer sehr bestimmten Gruppe von Patienten anfangen. Dabei ist die Definition tatsächlich klar. Der Patient muss so und so sein. Er sollte in einem Risikogebiet gewesen sein und so weiter. Dann merken sie aber im Laufe der Zeit, dass diese Falldefinitionen weicher werden. Das liegt in der Natur der Sache. Die Erkrankung breitet sich in der Bevölkerung aus und fängt an, gesunde Leute anzustecken, die dann mit der ersten Verdachtsdefinition nichts mehr zu tun haben. Das heißt, von einer kleinen Gruppe, die gut zu identifizieren ist, landen sie Wochen später an dem Punkt, dass sie die gesamte Bevölkerung als Verdachtsfall haben. Das bringt verschiedene Probleme mit sich: Wie versorge ich diese Menge an Leuten? Wie schütze ich das Personal und das Krankenhaus? Wie gehe ich mit der Öffentlichkeit um? Diese Herausforderung hat nicht nur die Politik, die sich immer für die maximale Sicherheit entscheiden muss, sondern sie existiert auch innerhalb eines Krankenhauses. Entscheidungen zu treffen, ist allerdings schwierig.

Wo sehen Sie da konkret die Probleme?

Wenn sie zu weiche Entscheidungen treffen, werden sie später an den Pranger gestellt, weil sie Gefahren nicht erkannt haben und weil sie zu lasch damit umgegangen sind. Die Leute, die Mitarbeiter, die Patienten aber auch die gesamte Bevölkerung werden sich immer an sie erinnern. Wenn sie hingegen zu streng sind, leiden sie unter der ständigen Kritik der Kollegen und Mitarbeiter, dass man übertreiben würde. Dieser Spagat zwischen Strenge und Milde ist in der Tat ein sehr wichtiges Problem.

Das neuartige Virus ist derzeit Thema Nummer 1 in Deutschland. Wie schätzen Sie die Berichterstattung und die damit einhergehenden politischen Entscheidungen ein? Hilft diese oder verbreitet sie eher Angst in der Bevölkerung?

Wir leben in einer Zeit, wo jeder nur das hört, was er hören will. Jeder kann sich in den Medien das aussuchen, was ihm gefällt. Argumente, die Ihnen passen, finden Sie überall. Das ist ähnlich wie mit Impfbefürwortern und Impfgegnern. Die Gegner kommen ihnen in der Diskussion mit Argumenten, Studien und Dokumentationen, die sie sich passend irgendwo gesucht haben. Damit machen sie die Diskussion noch schwieriger. Die heutigen Medien haben das Problem, dass sich eine Gruppe der Bevölkerung in Bereichen informiert, die uns Leuten im Gesundheitswesen keinen Gefallen tut.

Die Zahlen und Daten des RKI, welche zum Virus im Umlauf sind, geraten dennoch auch durch anerkannte Experten und Virologen in Kritik. Sowohl die Infiziertenzahlen als auch die Zahl der Toten geben offenbar Anlass zum Zweifel. Warum ist das so und wie schätzen Sie die Stichhaltigkeit der aktuellen Datenlage ein?

Dem RKI ist im eigentlichen Sinne kein Fehler zu unterstellen. Die Zahlen, die sie bekommen, sind die Meldezahlen, die es auch bei anderen Erkrankungen gibt. Das Problem liegt in der Natur einer Pandemie. Überlegen Sie sich Folgendes: Die Erkrankung geht durch die Bevölkerung und es ist eine Durchseuchung zu erwarten. Wir haben eine Unmenge an Personen, deren Erkrankungen mild verlaufen oder asymptomatisch sind, die wir zudem nie getestet haben. Dazu kommt eine Eigenschaft des Virus, dass Leute ansteckend sind, obwohl sie in den ersten acht Tagen keine Beschwerden haben. Die tatsächliche Fallsterblichkeit werden wir erst am Ende der Pandemie wissen. Alles andere was wir haben, ist rein spekulativ. Ein wichtiger Punkt ist zudem, dass die Fallsterblichkeit noch komplexer wird, wenn wir durch die neuen Antikörpertests anfangen zu verstehen, wie viel Prozent der Bevölkerung tatsächlich Antikörper entwickelt haben und die Erkrankung überstanden haben. Diese ganze statistische Debatte in der Öffentlichkeit ist eigentlich eine Diskussion, die uns jetzt nicht weiter bringen wird.

Das heißt doch aber im Umkehrschluss, dass die Zahlen, die wir jetzt kriegen und die auch Grundlage für politische Entscheidungen sind, eher wenig belastbar sind.

Ehrlich gesagt sind sie bis zu einem gewissen Punkt belastbar. Aber sie sind nicht die letzte Wahrheit. Die Zahlen sind ein Instrument, um Entscheidungen zu treffen. Es kann sein, dass jetzt Entscheidungen getroffen werden, die sich später als übertrieben erweisen. Oder eben – mit ein bisschen Pech – als nicht ausreichend. Die Politiker werden sich jedoch in der jetzigen Situation anhand der Zahlen, die zur Verfügung stehen, mit hoher Wahrscheinlichkeit für den sichersten Weg, den es gibt, entscheiden. Sie sind in der politischen Verantwortung im Rahmen dieser Pandemie. Egal, wie belastbar die Zahlen sind.

Wie groß ist Ihrer Meinung nach die tatsächliche Gefahr, die von dem Corona-Virus ausgeht?

Meiner persönlichen Einschätzung nach haben wir ein Virus, von dem wir wissen, dass die Leute, die akut erkranken, über 65 Jahre alt sind. Dazu kommen Vorerkrankungen. Im Bereich der jüngeren Leute und der Kinder sehe ich tatsächlich keine große Gefahr. Es ergeben sich natürlich ab und zu Fälle von jungen Leuten, die schwer erkranken. Aber wir sprechen von einer Erkrankung, die vor allem älteren Menschen gefährlich wird. Die Herausforderung wird deshalb sein, wie die Gesellschaft aus den strengen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie herauskommen kann, ohne diesen Teil der Bevölkerung zu gefährden. Denn bei einer Lockerung ist zu erwarten, dass das Virus die Möglichkeit hat, sich nochmal auszubreiten. Dann gibt es eine zweite Welle. Das wird immer so sein, bis das Virus 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung infiziert hat, sodass diese eine Art Herdenschutz entwickelt.

Was denken Sie, wie lange wir noch mit den derzeitigen Einschränkungen leben müssen?

Ich denke, das, was wir in Demmin momentan erleben, ist nicht das Ende der Geschichte. Ich erwarte die kritisch Erkrankten für die nächsten Wochen im April, Mai und Juni. Diese Fälle werden wir über den Sommer hinaus bis 2021 haben. Solange wie kein Impfstoff oder eine evidenzbasierte Therapie kommt. Beziehungsweise solange, wie wir als Bevölkerung keinen Herdenschutz entwickeln, werden uns diese Fälle begleiten.

Heißt das aber auch, dass wir uns weiter an Schulschließungen und Veranstaltungsverbote gewöhnen müssen oder werden diese Regeln noch während der Pandemie gelockert?

Da stellt sich die Frage, was können wir machen, um aus dieser sehr effektiven, aber leider unterdrückenden Maßnahme rauszukommen? Was wären die Strategien? Sehr wahrscheinlich wird die Lockerung dieser Maßnahmen nicht auf einmal passieren, sondern graduell. Es könnte zum Beispiel sein, dass wir zunächst mit den Universitäten anfangen, dann würden die Kitas und die Schulen kommen. Ich denke, dass sich die Politik für den Schutz der Älteren und Vorerkrankten positionieren wird und vielleicht diese Leute mit besonderen Maßnahmen schützt. Irgendwann muss die Entscheidung kommen, die derzeitigen Maßnahmen zu beenden. Und irgendwann muss die epidemiologische Entscheidung kommen, die Herdenimmunität zu beschleunigen. Denn momentan wird der Übertragungsweg unterdrückt. Das bedeutet aber, dass sich die Pandemie in die Länge zieht.

Wenn Sie vom Beschleunigen sprechen, heißt das, es müssten sich mehr Leute anstecken. Ist es das, was Sie eigentlich für sinnvoll halten?

Was ist sinnvoll und was ist ethisch? Das ist die Kernfrage und die ist nicht einfach zu beantworten. Sinnvoll im Sinne der Herdenimmunität ist es auf jeden Fall. Ethisch im Sinne des Schutzes der Älteren und Schwachen wäre es nicht. Ich bin glücklich, dass diese Entscheidung nicht durch mich zu treffen ist.